Individualpsychologie trifft Hirnforschung: moderne Forschung bestätigt die Tiefenpsychologie
Die Tiefenpsychologie zählt zu den frühesten Strömungen der modernen Psychologie. Über viele Jahrzehnte musste sie sich neben Ansätzen wie dem Behaviorismus oder der kognitiven Psychologie behaupten. Diese wollten menschliches Verhalten mit naturwissenschaftlichen Methoden objektiv messen und erklären. Es war kein einfacher Weg für tiefenpsychologisch arbeitende Berater:innen und Forscher:innen.
Heute belegen die Erkenntnisse der Hirnforschung die Pionierleistungen von Alfred Adler und seiner Individualpsychologie. In diesem Beitrag möchten wir das hochaktuelle und zukunftsweisende Wissen mit Ihnen teilen.
Tiefenpsychologische Annahmen – aktueller denn je
Mit Beginn des 20. Jahrhunderts verfolgten vorwiegend amerikanische und britische Forscher:innen wie John B. Watson oder B. F. Skinner das Ziel, die bisher geisteswissenschaftliche Psychologie als Naturwissenschaft zu etablieren. Sie entwickelten Standards, um das menschliche Erleben und Verhalten anhand beobachtbarer Kriterien zu erfassen und mithilfe statistischer Verfahren auszuwerten.
Messen statt beobachten?
Alfred Adler nutzte zur Entwicklung seiner individualpsychologischen Konzepte vor allem drei Dinge:
- Introspektion (Innenschau): das Erkennen und Verstehen eigener innerer Zustände durch Beobachtung und Austausch mit anderen
- Einfühlung in andere Menschen
- Expertise entsteht durch Erfahrung
In der Forschungswelt der Universitäten galt die objektive Naturwissenschaft den Geisteswissenschaften als überlegen. An dieser Stelle ist eine Anmerkung notwendig: Die messbaren Aspekte menschlichen Erlebens und Verhaltens bilden lediglich einen Ausschnitt des menschlichen Daseins ab. Sie können den Menschen in seiner Komplexität nicht erfassen. Es wäre daher sinnvoll, beide Ansätze als gegenseitige Ergänzung und Inspiration zu nutzen.
Kindheit prägt das Leben: Hirnforschung bestätigt Alfred Adlers Annahmen
Eine der zentralen Annahmen Alfred Adlers lautet: Die entscheidende Entwicklung der Persönlichkeit eines Menschen geschieht während der Kindheit. Die Heranwachsenden beobachten, wie sich ihre Mitmenschen verhalten, welche Meinungen sie vertreten und welche Folgen sich aus den verschiedenen Aktionen ergeben. Diese Informationen bewerten die jungen Menschen daraufhin, ob sie ihnen als zielführend und hilfreich erscheinen oder nicht. Alfred Adler spricht in diesem Zusammenhang von der schöpferischen Kraft des Kindes. Schöpferisch ist dieser Prozess, weil Kinder nicht automatisch oder wahllos das Erlebte wiederholt. Heranwachsende ziehen Schlussfolgerungen aus ihren Beobachtungen, probieren selbst aus und entscheiden proaktiv, welche Verhaltensweisen oder Einstellungen sie übernehmen und welche sie verwerfen.
Lebensstil: Grundmuster des Erlebens und Verhaltens
Auf diese Weise bildet sich Stück für Stück der einzigartige Lebensstil einer Person heraus, oder anders ausgedrückt: ihre Sicht auf die Welt, auf andere Menschen, auf ihre eigenen Stärken und Schwächen und auf ihren Platz inmitten der anderen.
„Es gibt keine zufälligen Erinnerungen“, sagt Alfred Adler (Ansbacher & Ansbacher, 1975). Damit meint er, dass das menschliche Gehirn vor allem solche Erfahrungen als wichtig erachtet, die zu seinem Grundmuster passen und sie deshalb länger speichert. Aus individualpsychologischer Sicht stellen Verhaltensmuster nicht einfach einen Durchschnitt aller bisher beobachteten Handlungsweisen dar, sondern zeigen das Ergebnis eines aktiven Experimentier- und Auswahlprozesses.
Individualpsychologische Beratung: den Lebenskonzepten auf der Spur
Individualpsychologische Lebensberater:innen sind darin geübt, in Erinnerungen und Erzählungen ihrer Klient:innen deren Lebenskonzepte zu erkennen. Beratungspersonen begeben sich gemeinsam mit jedem Menschen auf die Entdeckungsreise zu seinem einzigartigen, individuellen Lebensstil. Eine wertvolle und wichtige Aufgabe.
Anschliessend geht es darum, Einstellungen und Glaubenssätze auf ihren aktuellen Nutzen hin zu prüfen und gezielt zu verändern. Dieser Schritt erfordert Engagement und Geduld auf beiden Seiten. Berater:innen leisten durch ihre Ermutigung einen wichtigen Beitrag zum Erfolg ihrer Klient:innen.
Ein Beispiel aus der Praxis:
Anna Z. ist Geschäftsführerin einer mittelständischen Firma und muss eine folgenreiche Entscheidung treffen: Ihre Firma hat ein Angebot für eine Kooperation von einem anderen Unternehmen erhalten. Auf den ersten Blick scheint das Vorhaben für alle Beteiligten hilfreich und zukunftsweisend.
Doch Frau Z. zögert. Sie berichtet von einem „mulmigen Gefühl“, das ihr eine Warnung sein könnte. Sie weiss nicht, wie sie entscheiden soll.
In der Beratung gehen wir dem Gefühl nach: Gab es in der Kindheit eine Situation, aus der sie es kennt? – Ja, es gab diesen Moment, und damals ging die Sache nicht gut aus. Der Lebensstil von Anna Z. stellt eine Verbindung zwischen damals und heute her. Damals war sie handlungsunfähig, daher das mulmige Gefühl. Doch ist diese Erfahrung eine hilfreiche Entscheidungsgrundlage für heute? Was ist heute anders? Die Position!
Anna Z. verfügt heute über Handlungsspielräume, sie kann die Kooperation aktiv mitgestalten und sie beenden, falls künftige Entwicklungen dies erfordern. Frau Z. weiss jetzt, wie sie weiter vorgehen wird.
Viele Berater:innen im psychosozialen Bereich empfinden es als äusserst erfüllend, Menschen auf ihrem Entwicklungsweg ein Stück zu begleiten und zu unterstützen. Für diese Tätigkeit benötigen Sie kein Psychologiestudium, eine Diplom-Ausbildung an der Akademie für Individualpsychologie bringt Sie zum Ziel.
Persönlichkeitsentwicklung aus Sicht der Hirnforschung
Die Erkenntnisse der modernen Hirnforschung weisen in dieselbe Richtung wie Alfred Adlers Individualpsychologie. So berichtet der Neurobiologe Gerald Hüther über seine Erkenntnisse, wie sich die kindliche Persönlichkeit während der Schwangerschaft und der ersten Jahre entwickelt. Er geht davon aus, dass die Gene einen gewissen Einfluss ausüben, jedoch vor allem die körperlichen Merkmale festlegen. Prof. Hüther stellt fest, dass der intensive Fokus auf die Rolle der Gene den Blick auf die Persönlichkeitsentwicklung verstellt hat. Die Persönlichkeit bildet sich im Rahmen eines umfassenden Prozesses der Selbstorganisation. Die Basis für dieses Wachstum wird während der Schwangerschaft und der ersten Lebensjahre gelegt. Deshalb kommt dieser Lebensphase eine so grosse Bedeutung zu.
„Eigentlich braucht jedes Kind drei Dinge: Es braucht Aufgaben, an denen es wachsen kann, es braucht Vorbilder, an denen es sich orientieren kann und es braucht Gemeinschaften, in denen es sich aufgehoben fühlt.“ Prof. Dr. Gerald Hüther
Genauso aufschlussreich ist eine Dissertation an der Sigmund-Freud-Privatuniversität Wien. Die Verfasserin Susanne Rabenstein vergleicht die zentralen Konzepte der Individualpsychologie mit den modernen Erkenntnissen der Neurowissenschaft. Eine absolut empfehlenswerte und informative Lektüre für Coaches, Berater und Therapeuten mit individualpsychologischer Ausrichtung.
Ein weiteres Werk zur Aktualität und Relevant von Alfred Adlers Ansätzen ist das Buch „Alfred Adler heute – zur Aktualität der Individualpsychologie.“ von Bernd Rieken.
Ruth Bärtschi, Gesamtleitung Akademie für Individualpsychologie
Die Akademie bietet Ihnen eine dreijährige, berufsbegleitende Ausbildung. Nächster Beginn: August 2022. SGfB anerkannt. Gelistet beim Bund für Subjektfinanzierung bei Abschluss bis Psychosoziale/r Berater/in mit eidgenössischem Diplom (HFP)
Quellen:
- Ansbacher, Heinz L. & Ansbacher, Rowena R. (1975): Alfred Adlers Individualpsychologie. Eine systematische Darstellung seiner Lehre in Auszügen aus seinen Schriften. Ernst Reinhard Verlag.
- Hüther, Gerald (2017): „Zuhause für die Seele“. In: Der Spiegel 44/2017.
- Rieken, Bernd (Hrsg.) (2021): Alfred Adler heute – zur Aktualität der Individualpsychologie. Psychotherapiewissenschaft in Forschung, Profession und Kultur. Band 31. Waxmann Verlag.
- Rabenstein, Susanne (2017): Individualpsychologie und Neurowissenschaften: Zur neurobiologischen Fundierung der Theorien Alfred Adlers. Psychotherapiewissenschaft in Forschung, Profession und Kultur. Band 20. Waxmann Verlag.