Die fünf Lebensaufgaben – Basis für ein erfülltes Leben
Die Individualpsychologie ist faszinierend vielseitig. Sie bietet einerseits fundierte Beratungsmethoden für krisenhafte Lebensphasen. Gleichzeitig präsentiert sie ein verständliches und praxiserprobtes Konzept für ein gelingendes Leben. In diesem Beitrag stehen die fünf Lebensaufgaben im Fokus, die jeden Menschen herausfordern und die er bewältigen muss, um ein erfülltes Dasein zu führen: Liebe, Arbeit, Gemeinschaft, Kosmos und Selbst. Zu jeder Lebensaufgabe finden Sie Fragen, die Sie zum persönlichen Reflektieren einladen, und ganz am Schluss des Textes finden Sie eine Übung zur Selbstanalyse in Bezug auf alle Lebensaufgaben.
Liebe als Lebensaufgabe – mehr als romantische Beziehungen
Alfred Adler stellte die Lebensaufgabe “Liebe“ als zentralen Aspekt der menschlichen Entwicklung dar. Er verstand sie als die Fähigkeit, tiefe und bedeutungsvolle Beziehungen zu führen. Liebe, im Sinne Adlers, geht über romantische Beziehungen hinaus und umfasst diverse Formen menschlicher Bindung – neben der Partnerschaft, Sexualität und Kommunikation umfasst diese Lebensaufgabe auch die Beziehungen zu Kindern, Eltern und der erweiterten Familie.
Erfüllte Beziehungen tragen maßgeblich zu unserem emotionalen Wohlbefinden bei. Sie bieten Unterstützung, fördern das Gefühl der Zugehörigkeit und helfen uns, Stress und Herausforderungen besser zu bewältigen.
In der individualpsychologischen Beratung wünschen sich deshalb viele Ratsuchende, an Hindernissen zu arbeiten, die einer erfüllten Beziehungsgestaltung im Weg stehen. Dazu zählen vor allem frühe Prägungen, Enttäuschungen und Ängste. Anna K. zum Beispiel lebte seit ihrer Scheidung vor sechs Jahren als Single und litt unter sozialen Ängsten. Ihr damaliger Mann hatte sie monatelang mit ihrer besten Freundin betrogen. Die beiden sind inzwischen verheiratet. Anna erlebte die Trennung als Trauma. Der doppelte Verrat führte zu einem tiefen Vertrauensverlust in andere Menschen, den sie alleine nicht überwinden konnte.
Lebensaufgabe „Liebe“: Fragen zur Reflexion
Wenn Sie mögen, nehmen Sie nun ein Blatt und einen Stift zur Hand und notieren die Antworten auf folgende Fragen:
- Wie würden Sie Ihre aktuellen Beziehungen beschreiben? Fühlen diese sich erfüllt an?
- Welche Erwartungen stellen Sie an die Partnerschaft?
- Plagen Sie Ängste oder Misstrauen?
- Welche Gefühle hegen Sie sich selbst gegenüber?
- Würden Sie gerne Ihre Liebesfähigkeit stärken?
Lebensaufgabe “Arbeit“: Jeder Mensch möchte seinen Beitrag leisten
Die Aufgabe der Arbeit meint in der Individualpsychologie die berufliche Tätigkeit und die Fähigkeit, einen sinnstiftenden, produktiven Beitrag zur Gesellschaft zu leisten. Dies kann auch eine ehrenamtliche Aufgabe sein. Warum ist der Lebensbereich Arbeit so wichtig? Alfred Adler hat schon früh erkannt, dass Arbeit dem Leben Struktur bietet, das Selbstwertgefühl steigert und es dem Einzelnen ermöglicht, seine Fähigkeiten und Talente einzusetzen. In den westlich geprägten Gesellschaften ist Arbeit zudem ein zentraler Bestandteil der persönlichen Identität und trägt zur finanziellen Unabhängigkeit bei. Bei dieser Lebensaufgabe geht es um die Zufriedenheit mit der Tätigkeit, den Vorgesetzten, den Mitarbeitenden, der eigenen Laufbahn und der Work-Life-Balance.
Ein Beispiel aus dem Beratungsalltag zeigt die möglichen Auswirkungen von Schwierigkeiten mit dieser Lebensaufgabe. Manuela W. ist leidenschaftliche Goldschmiedin mit eigenem Geschäft. Beim Fensterputzen stürzt sie unglücklich und fällt mit beiden Händen in eine gebrochene Glasscheibe. Mehrere Sehnen und Nervenbahnen in ihrer rechten Hand wurden dabei stark beschädigt. Nach zahlreichen Operationen steht fest: Ihre Feinmotorik ist dauerhaft eingeschränkt, ihre Arbeit kann sie nicht mehr in der gewohnten Form ausüben. Frau W. gerät in eine tiefe Sinnkrise, die auch ihre Ehe sehr belastet. Sie kann sich nicht vorstellen, einen anderen Beruf auszuüben und zieht sich immer mehr in sich zurück.
Lebensaufgabe „Arbeit“: Fragen zur Reflexion
Bitte nehmen Sie wiederum ein Blatt Papier und einen Stift zur Hand und notieren Sie Ihre Antworten.
- Wie zufrieden sind Sie aktuell mit Ihrer beruflichen Situation?
- Welche Aspekte empfinden Sie als erfüllend, welche Aufgaben belasten Sie?
- Fühlen Sie sich an Ihrem Arbeitsplatz wertgeschätzt?
- Gibt es noch Ziele, die Sie unbedingt erreichen wollen?
Lebensaufgabe “Gemeinschaft“: Erfüllung und Sinn finden
Alfred Adler drückte in der Individualpsychologie die zwei Seiten des Menschseins aus, die aktueller sind denn je: Jeder Mensch existiert als vollständige und einzigartige Persönlichkeit. Gleichzeitig ist er ein Leben lang auf unterstützende soziale Beziehungen angewiesen. In der Lebensaufgabe “Gemeinschaft“ kommt die soziale Orientierung zum Ausdruck. Anders formuliert: Jeder Mensch möchte einen Beitrag zur Gemeinschaft leisten. Sich in Gruppen zu engagieren und die individuellen Talente einzubringen ist zutiefst erfüllend und trägt zu einem sinnhaften Dasein bei. Diese Lebensaufgabe umfasst die Freundschaften, die Nachbarschaft, die Vereine/Kirche, die Politik sowie die „Andern“.
In der Supervisionsgruppe berichtet eine Teilnehmerin von einem Klienten: Thomas J. ist ein junger, äusserst talentierter Fussballer. Er spielt erfolgreich in der Amateurliga und hat Ambitionen auf eine Profikarriere. Die meiste Zeit ausserhalb der Schule investiert er in sein Training. Als er zusammen mit seiner Mutter in die Beratung kommt, legt er seine Zweifel offen: Er liebt Fussball. Allerdings fühlt er sich zunehmend isoliert von seinen Freunden. Sie hätten mehr Zeit für altersgemässe Themen. Er habe das Gefühl, seinen Platz in der Gemeinschaft zu verlieren, da er aus Zeitgründen zum Beispiel weder Partys besucht noch erste Erfahrungen mit Frauen vorweisen kann. Seine Rolle als guter Zuhörer und Ratgeber kann er nicht mehr ausfüllen. Er weiss nicht, wie er mit diesem belastenden Widerspruch umgehen soll.
Lebensaufgabe „Gemeinschaft“: Reflexion
Wie stehen Sie zu dieser Aufgabe? Beantworten Sie gerne die folgenden Fragen für sich:
- Fühlen Sie sich von ihrem sozialen Netzwerk aufgehoben und unterstützt?
- Hat es Ihrem Gefühl nach die passende Größe?
- Wie tragen Sie dazu bei, um den Zusammenhalt zu stärken?
- Können Sie leicht neue Kontakte knüpfen?
Lebensaufgabe “Selbst“: Das eigene Dasein aus individualpsychologischer Sicht
Die Lebensaufgabe im Bereich des “Selbst“ bezieht sich auf die persönliche Entwicklung und Selbstverwirklichung. Sie umfasst die Pflege der eigenen körperlichen, emotionalen und geistigen Gesundheit.
Anders ausgedrückt beeinflusst die Auseinandersetzung mit uns selbst das persönliche Wohlbefinden und trägt enorm zur Lebensqualität bei. Sie ermöglicht uns, uns unserer Ziele bewusst zu werden und sie zu verwirklichen. In den Bereich dieser Lebensaufgabe fällt die Selbstannahme, die Selbsterziehung, die Muse, das körperliche Wohlbefinden sowie die Gesundheit.
Ein Beispiel aus der individualpsychologischen Praxis: Lea S. wünscht sich Unterstützung, weil sie eine grosse Unzufriedenheit bei sich wahrnimmt. Sie hat zwei kleine Kinder, einen Mann, ein Haus mit Garten und arbeitet noch 40%. Sie kümmert sich pflichtbewusst um Kinder, Haus, Garten, Job und Mann. Ihre Unzufriedenheit wächst jedoch von Tag zu Tag und sie meint: „ich habe doch alles, was ich wollte – wieso bin ich so unzufrieden?“. Diese Unzufriedenheit wirkt sich mit der Zeit auch auf die Beziehung und die Kinder aus, sie wird dünnhäutiger und wird schnell ungeduldig und schreit sowohl Mann wie Kinder an. Indem sie es allen Recht machen möchte, vergisst sie eine wesentliche Person dabei, nämlich sich selber. Sie stellt ihre eigenen Bedürfnisse an letzter Stelle. Wer seine eigenen Bedürfnisse über längere Zeit nicht beachtet, wird unzufrieden und kann mit der Zeit sogar krank werden. In der Beratung lernt Lea wieder ihre eigenen Bedürfnisse zu erkennen, wahrzunehmen und auch dafür einzustehen.
Lebensaufgabe „Selbst“: Reflexion eines zentralen Lebensbereiches
- Kennen Sie Ihre Stärken und Schwächen?
- Können Sie Schwächen akzeptieren, ohne deshalb schlecht von sich zu denken?
- Wie gehen Sie mit Ihren Bedürfnissen um? Sorgen Sie gut für sich?
- In welchem Verhältnis stehen die fünf Lebensaufgaben in Ihrem Alltag? Haben Sie den Eindruck, sie sind aufgewogen oder setzen Sie unterschiedliche Prioritäten? Sind Sie damit zufrieden?
Lebensaufgabe „Kosmos“: Die Verbindung mit dem grossen Ganzen
Mit dieser Lebensaufgabe verweist die Individualpsychologie auf das Verhältnis einer Person zur Welt und zur Natur. Hier geht es um das Bewusstsein, dass der Mensch eng mit dem Netz des Lebens verbunden ist und er deshalb einen respektvollen Umgang mit seiner Mitwelt pflegt. Darüber hinaus erkennt er an, dass er eine Verantwortung für zukünftige Generationen trägt. In diese Lebensaufgabe fallen der Bezug zur Tierwelt, zur Umwelt, zur Religion/Glaube, zur Ethik sowie zur Sinnfrage.
Immer wieder berichten Klienten und Klientinnen in der Beratung, dass sie den Kontakt zur Natur verloren hätten und ihnen deshalb etwa fehlt. Sie fühlen sich von der Hektik des modernen Lebens überfordert und wünschen sich Entschleunigung und eine tiefere Verbindung zur Umwelt. Ein klassisches Beispiel ist Jonas D., der sich als Ingenieur grundsätzlich sehr für Technik begeistert. Trotzdem sehnt er sich nach einem nachhaltigeren Leben und Kontakt zur Natur. Durch die Beratung entdeckt er seinen grünen Daumen und engagiert sich mit Freude in einem Gemeinschaftsgarten.
Reflexion Ihrer Beziehung zum „Kosmos“
Beantworten Sie die folgenden Fragen, um Ihre Haltung zu dieser Lebensaufgabe zu erkennen:
- Wie häufig verbringen Sie Zeit in der Natur? Empfinden Sie sie als ausreichend?
- Fühlen Sie sich in das grosse Ganze eingebettet?
- Pflegen Sie Rituale, etwa Meditation, die Sie mit dem Kosmos, Gott, dem Leben oder wie immer Sie es nennen, verbinden?
Fazit
Mit seinem Konzept der Lebensaufgaben hat Alfred Adler eine verständliche Orientierung geschaffen, die seit einhundert Jahren Menschen unterstützt, ihren Lebensweg zu gehen und Krisen zu bewältigen. Möchten Sie eine Selbstanalyse in Bezug auf die Lebensaufgaben machen? Dann öffnen Sie dieses Dokument und füllen sie ihre jeweilige Zufriedenheit von 0-10 zu allen aufgeführten Fragen aus. Am Schluss sehen sie wie zufrieden Sie sind und mit welchen Lebensaufgaben sie sich gezielter auseinandersetzen könnten.
Sie wünschen sich weitere Informationen oder überlegen, eine Ausbildung in individualpsychologischer Beratung zu absolvieren? Gerne beantworten wir Ihr Anliegen persönlich. Nutzen Sie einfach unser Kontaktformular. Wir freuen uns auf Sie!
Quellen:
Dreikurs, Rudolf (2014). Grundbegriffe der Individualpsychologie. 14. Auflage. Klett-Cotta.
Autorin:
Mag. Susanne Schmieder (Psychologin)
Susanne Schmieder kennt und schätzt die Individualpsychologie seit ihrem Studium. Sie hat sich theoretisch mit Alfred Adlers Konzept befasst und weiss aus eigener Erfahrung, dass die Individualpsychologie unzählige wertvollen Impulse für die persönliche Entwicklung bereit hält.
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Ausbildung zum/zur individualpsychologischen Berater/in AFI
Die Akademie für Individualpsychologie (AFI) bietet eine 3-jährige berufsbegleitende Ausbildung dazu an. Zusätzlich besteht die Möglichkeit, den eidgenössisch anerkannten Titel «Berater/in im psychosozialen Bereich mit eidgenössischem Diplom HFP» zu erwerben. Eine Anerkennung durch den Berufsverband mit dem Qualitätslabel psychosoziale/r Berater/in SGfB steht nach der Ausbildung ebenfalls offen.
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