Die Tatsache, dass Alfred Adler, der Begründer der Individualpsychologie in diesem Jahr 150 Jahre alt wäre, nehmen wir zum Anlass, um in zwei Teilen die wichtigsten Faktoren des Menschenbildes dieser Psychologierichtung darzustellen. Die Feierlichkeit nimmt auch der Schweizer Kongress für Adlerianische Psychologie, kurz SKAP genannt, am Wochenende vom 5. & 6. September 2020 auf. Ein Ermutigungshub den Sie nicht verpassen sollten, wenn Ihnen diese Psychologierichtung zusagt.
Vom privaten und professionellen Menschenbild
In aller Regel ist unser Menschenbild durch unseren privaten Umgang damit geprägt. Doch für Berater, Therapeuten, Lehrer, Erzieher oder Unternehmer reicht diese Sicht nicht aus. Vielmehr muss sich der oder die Helfende bewusst darüber sein, wie das eigene private Menschenbild aussieht, um professionell arbeiten zu können.
Kurzum: Es geht um die Auseinandersetzung mit dem eigenen psychologischen Menschenbild, um eine entsprechende psychologische Ausbildung, auf deren Grundlage die eigene Arbeit aufgebaut werden kann, zu finden.
Der Grundgedanke der Individualpsychologie (IP) liegt auf einem nachvollziehbaren und systematischen Blick auf den Menschen, auf seine Ziele und letztlich seine Lebensaufgaben. Menschliche Intuition kann zwar nicht schaden, wenn es um psychosoziale Arbeit geht. Doch mit individualpsychologischen Grundlagen lassen sich psychosoziale Beratungen zielführend und kompetent gestalten und das professionelle Menschenbild schärfen.
Ein guter psychosozialer Berater hat nicht nur Kenntnis über das eigene sowie das psychologische Menschenbild. Ebenso wichtig ist es, sich die Sicht des Hilfesuchenden zu eigen zu machen und ihn in die Lage zu versetzen, zu einer ermutigten und ermutigenden Persönlichkeit zu werden.
Die Individualpsychologie nach Alfred Adler
Das Besondere an der Individualpsychologie Alfred Adlers (1870-1937) ist der ganzheitliche Ansatz. Adler war es, der ein Gesamtpsychotherapiemodell entworfen hat, das gleichermaßen auf die normale Psyche des Menschen wie auch auf Neurosen, Psychosen, Psychopathien, Prävention und Rehabilitation abzielt.
Die Ganzheitlichkeit von Adlers Persönlichkeitstheorie ist bemerkenswert, weil er seiner Zeit voraus war, indem er schon früh auf die Relevanz der Sozialmedizin hinwies und gesellschaftliche Faktoren benannte, die bestimmte Krankheitsentwicklungen begünstigen. Als Erster benannte er die holistische Sicht der Zusammenhänge, welche heute als Psychosomatik bekannt ist. Zudem wurde Adler nicht müde, immer wieder auf die Notwendigkeit der psychologischen Prophylaxe hinzuweisen.
Man kann die Verdienste Alfred Adlers gar nicht hoch genug ansiedeln, wenn man bedenkt, dass er schon in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts die Bedeutung des Gemeinschaftsgefühls betonte und methodisches Training empfahl. Heute basieren zahlreiche soziale Lernprogramme auf den Überlegungen Alfred Adlers.
Als eine wertfreie und positivistische Wissenschaft hatte es die Individualpsychologie Adlers eine Weile nicht leicht. Inzwischen ist jedoch allgemein anerkannt, dass eine Neutralität in der psychosozialen Beratung bzw. Psychotherapie unumgänglich ist. Mehr noch: Sie ist – dahinter stehen inzwischen viele Fachleute – absolut erstrebenswert.
Alfred Adlers und Sigmund Freuds Ansätze, die eine Weile nur wenig Konfliktpotenzial boten, schwenkten nach und nach in unterschiedliche Richtungen. Adler setzte mit seiner Individualpsychologie einen Kontrapunkt zu Freuds Instanzenmodell. So stellte er ihm die Ganzheitlichkeit (Individuum = lat. Das Unteilbare) gegenüber und betonte, dass innerhalb seines Persönlichkeitsmodells „jede Ausdrucksform durchströmt ist vom Bewegungsgesetz des Ganzen“.
Der Mensch als zielorientiertes Wesen
Adler ging davon aus, dass sich das Verhalten des Einzelnen nie vollständig begreifen lässt, zumindest dann nicht, wenn man sich bei Erklärungsversuchen auf die Ursachen reduziert. Wichtiger für das Verständnis über den Menschen ist es, sich dessen Ziele vor Augen zu halten. Dabei muss man unterscheiden zwischen bewussten Zielen („Ich will etwas haben, also kaufe ich es mir.“) und den verborgenen Zielen, die auf der unbewussten Ebene zu finden sind. Nach Dreikurs ist das Ziel eines Menschen symbolisch und nicht auf körperliche Bewegungen zu übertragen. Dreikurs schreibt: „Vielleicht erreicht der Mensch das Ziel nicht, aber das Ziel erklärt die Art, wie er sich verhält.“ (aus: Schoenaker, Theo: Ja …, aber! RDI-Verlag. 2000, S. 31)
Sich gegenüber stehen auf der einen Seite das finale Prinzip und auf der anderen das der Kausalität. Für Adler war ab 1912 die Beobachtung der Zweckursächlichkeit die bessere Arbeitshypothese. Die finale Betrachtungsweise mit ihrem „weichen Determinismus“ geht von einem optimistischeren Menschenbild aus und bietet dem Individuum einen Entscheidungs- und Gestaltungsspielraum. Dadurch sind wir in der Lage, an unseren bewussten und unbewussten Zielen besser zu arbeiten, als das der Fall ist, wenn wir uns auf determinierende Ursachen fokussieren. Diese Dinge, die meist weit zurückliegen und in unserer Kindheit zu finden sind, entziehen sich im Allgemeinen unserer Einflussnahme im Hier und Jetzt.
Der Mensch als soziales Wesen
Der Mensch ist von Geburt an ein soziales Wesen. Für Neugeborene besteht ein wichtiges Ziel darin, in der Welt einen Platz zu finden. Das bedeutet in der Anfangszeit, einen Platz bei den Eltern und dem sozialen Umfeld zu haben. Auch später ist der Mensch darauf ausgerichtet, Zufriedenheit und Glück im Rahmen seiner sozialen Bindungen zu suchen und zu finden.
Doch auch individuelle Probleme und psychogene Krankheiten kann man sich nur im Zusammenwirken des Hintergrundes von sozialen Beziehungen erklären. Weil es um diese Qualität der Beziehungen geht, sah Adler die sozialen Lebensaufgaben in der „Arbeit“ der „Liebe“ und der „Gemeinschaft“.
150 Jahre Alfred Adler wird am SKAP 2020 gefeiert!
Sie wollen die Individualpsychologie kennen lernen? Der zweitägige Psychologiekongress gibt Ihnen einen umfassenden Einblick. Lernen Sie die Individualpsychologie durch ein umfassendes und abwechslungsreiches Programm kennen. Die detaillierten Kongressinformationen finden Sie hier: https://www.skap.ch/skap-2020/programm.htm. Elf spannende Referate zu den folgenden Themen werden Sie am 5. & 6 September 2020 in Kloten live erleben:
Marion Balla, Ottawa (Kanada)
Die Sprache authentischer Führung
Vom Mut, unvollkommen zu sein
Arbeiten mit schwierigen Menschen
Joachim E. Lask, Ober-Ramstadt (Deutschland)
Soft-Skills aus der Kinderstube – Eltern in der Wirtschaft
Ruth Bärtschi, Kloten
Die Technik der Thematisierung leicht gemacht
Csilla Kenessey Landös, Zürich
Wie findet lernen statt? (Neuroplastizität)
Isabelle Mäder-Sigrist, Pfäffikon (ZH)
Leichtigkeit und Leidenschaft im Klassenzimmer
Urs R. Bärtschi, Kloten
Wie Adler die psychologische Landschaft prägte
Barbara Fischer-Reineke, Stuttgart (Deutschland)
Mut zur Angst
Kathrin Matti, Münsingen
Wenn Kinder dazwischen geraten… (Loyalitätskonflikte)
Der zweite Teil folgt im Frühjahr 2020
Im zweiten Teil wird es unter anderem um Minderwertigkeits- und Zugehörigkeitsgefühle gehen, um Gemeinschaftssinn, Familienkonstellationen und den Lebensstil eines Menschen.