Ist im Zeitalter der Corona-Krise Disziplin in der Schule wichtiger denn je? Müssen Schüler nicht gerade jetzt, wo es um die Gesundheit aller geht, besonders diszipliniert auf die Situation reagieren? Oder geht genau dieser Ansatz am eigentlichen Ziel vorbei? Aus der Sicht der individualpsychologischen Beratung nach Alfred Adler muss der Begriff „Disziplin“ kritisch hinterfragt und aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden.
Wenngleich die Wenigsten sich offen trauen, Ihre Sympathie für die sogenannte „Schwarze Pädagogik“ zu äussern, gewinnt doch die Diskussion über die Disziplin immer wieder an Bedeutung. Der Begriff „Disziplin“ ist weniger negativ besetzt als „Schwarze Pädagogik“ (Gewalt & Einschüchterung). Mehr noch, er wird häufig eher positiv eingeordnet.
Der Unterschied zwischen Disziplin und Selbstdisziplin
Auch wenn sie ihren Ursprung oft in äusseren Bedingungen hat, ist die Selbstdisziplin in der Regel eine freiwillige Entscheidung. Der Mensch will etwas erreichen, was für ihn eine Herausforderung darstellt. Er muss sich also selbst disziplinieren, üben, trainieren, lernen, um sein Ziel zu erreichen. Wer beispielsweise ein Klavierstück von Frédéric Chopin spielen möchte, muss dafür viele Stunden Unterricht in Anspruch nehmen. Er muss das Stück nicht nur musikalisch, also handwerklich, beherrschen, sondern auch erkunden, was der Komponist mit seiner Komposition aussagen wollte. Ohne eine gewisse Selbstdisziplin ist es faktisch nicht möglich, ein Klavierstück von Frédéric Chopin zu spielen.
Ganz anders wird Disziplin, oder auch: Klassenführung, in der Schule betrachtet. Hier kommen eher militärische Assoziationen zum Tragen. Es geht ums Stillsitzen, darum, nur etwas zu sagen, wenn man gefragt wird, um die zwingende Akzeptanz dessen, was der Lehrkörper sagt. Tatsächlich geht es also weniger um Disziplin, sondern um Disziplinierung.
Doch das allein kann es nicht sein.
Die Lehrkraft in der Zwickmühle
Eine Lehrkraft muss immer auch eine Art psychosoziale Beraterin sein. Und um diesem Anspruch gerecht zu werden, reicht es nicht, unerwünschtes Verhalten zu unterbinden, wenngleich auch das eine der Aufgaben eines Lehrers ist. Vielmehr aber geht es darum, bei Fehlverhalten nicht gleich aus der Fassung zu geraten. Verhält sich ein Schüler daneben oder kommt zu spät zum Unterricht, gilt es, ihm dies aufzuzeigen, ohne den Schüler zu entwürdigen.
Alfred Adler, der Begründer der Individualpsychologie, sagte einmal, dass es leichter sei, für seine Werte zu sterben als für sie zu leben. Und tatsächlich ist es eine immer wiederkehrende Aufgabe, die Balance zwischen Wertschätzung und nötiger Lenkung des Klassenverbandes zu leben. Die Lehrkraft muss also durch disziplinarische Massnahmen die Rahmenbedingungen schaffen, in denen alle Kinder einer Klasse lernen können. Sie muss auf der anderen Seite aber die Kinder auf ihrem Weg zu selbständigen und verantwortungsbewussten Menschen begleiten.
Man kann Wissen bis zu einem bestimmten Punkt vermitteln, sogar verordnen, aber Werte müssen vorgelebt werden, nur so können sie wachsen und zu einer Überzeugung werden. Das Bemühen um eine fördernde Entwicklung ist dabei sogar wichtiger als das Erreichen des eigentlichen Ziels. Und wenn das Ziel und der Weg nicht im Widerspruch stehen, kann es gelingen, Disziplin mit individueller Entwicklung in Einklang miteinander zu bringen.
Die gegenteilige Strömung: Die Tabuisierung der Disziplin
Während es einerseits Strömungen gibt, die die Disziplin wieder stärker im Sinne der Disziplinierung betonen möchten und Frontalunterricht mit klarer hierarchischer Rollenverteilung anstreben, kann man auch ein anderes Extrem beobachten: die Tabuisierung der Disziplin.
Es mag dem Zeitraum nach 1968 geschuldet sein, dass Begriffe wie „Disziplin“ oder auch „Autorität“ eine Art „heisse Eisen“ wurden, die man besser nicht anfasst. Sicher liegt es aber auch daran, dass im Zeitalter von „Political Correctness“ bestimmte Bezeichnungen als unangemessen gelten. So mag es ein guter Ansatz sein, Strassennamen wie die „Mohrenstrasse“ politisch korrekt umzubenennen, um sich nicht des Rassismus verdächtig zu machen. Doch ob ein neuer Begriff tief im Innern verankerten Rassismus in einem Menschen bewältigen kann, darf und sollte hinterfragt werden.
Ähnlich verhält es sich mit der Disziplin. Die oben genannte Wertschätzung, die zu einem verantwortungsbewussten und selbstständigen Menschen führt, ist in der Theorie ein guter und richtiger Ansatz. Aber die Lehrkraft ist eben nicht nur eine Form der psychosozialen Beraterin, sondern muss sich täglich behaupten, weil viele Kinder sich nicht (mehr) an die grundlegenden Regeln des Zusammenlebens und Zusammenlernens halten. Diese Wirklichkeit durch die Vermeidung von Begriffen wie „Disziplin“ oder „Autorität“ auszublenden, bewirkt in der gelebten und erlebten Wirklichkeit nichts, was hilfreich wäre. Lehrer müssen täglich lenken, führen, beeinflussen und Disziplin herstellen. Daran ändert das Eliminieren bestimmter Begriffe nichts.
Es geht daher darum, disziplinarische Massnahmen und Wertschätzung miteinander in Einklang zu bringen. Dazu gehört, dass der Schüler, also der Gelenkte, anerkennt, dass es die Lehrkraft, also die Lenkende, gut mit ihm meint, ihm grundsätzlich wohlgesonnen ist. Das ist zuweilen ein „Tanz auf dem Vulkan“, der jedoch glücken kann, wenn es gelingt, gegenseitige Achtung anzubieten und diese zu leben. Wenn der Schüler mit der Hilfe der Lehrkraft lernt, sich selbst zu akzeptieren, können aus destruktiven Selbstgesprächen konstruktive Selbsterkenntnisse werden. Die Individualpsychologie nach Alfred Adler spricht hier von einem Akt der „Selbsterziehung“.
Man muss anerkennen, dass dies nicht in jedem Fall gelingt, teils weil die Lehrkraft überfordert ist oder nicht über die entsprechende Grundhaltung verfügt. Teils aber auch, weil es Biografien gibt, die so zerrüttet sind, dass Lehrer keinen Zugang mehr zu bestimmten Schülern finden (können). Dieser Zustand muss keineswegs dauerhaft sein, es bedarf aber in solchen Fällen mehr als eine einfühlsame und positiv eingestellte Lehrkraft. Fachleute, die eine Ausbildung in der psychosozialen Beratung haben, kommen hier oft weiter als es die Lehrkraft im Rahmen ihrer natürlichen Möglichkeiten könnte.
„Streng, aber gerecht …“
Hilfreich für die Beurteilung der Lage von Schülern (und Kindern im Allgemeinen) ist ein Blick auf deren Perspektive. Denn viele Schüler wünschen sich Lehrkräfte, die einen Ausgleich zwischen Lenkung und Zulassen anstreben.
„Streng, aber gerecht muss er sein“, das antworten viele Schüler, wenn sie nach dem „idealen“ Lehrer befragt werden. Das ist eine realistische Einschätzung, und für viele Jugendliche bedeutet das, dass sie sich Lenkung wünschen, auch, um sich orientieren zu können.
Hinter diesem Wunsch von Schülern steckt auch der nach einer emotionalen Bindung. Entscheidungen, die emotional für Kinder nachvollziehbar sind, werden eher akzeptiert als solche, die ohne emotionalen Unterbau getroffen werden. Eine Forderung ohne emotionalen Rückhalt wird auch genauso wahrgenommen, als eine gefühlsbefreite und somit emotionslose Forderung. Doch Kinder brauchen das aufrichtige Gefühl, verstanden zu werden, sie brauchen die Einsicht, dass eine Forderung sinnvoll und auf ihr Wohlergehen ausgerichtet ist.
Letztlich bringt ein Schüler, der sich Strenge und Fairness wünscht, eines der Grundprinzipien der Individualpsychologie auf einen Punkt: Er braucht Lenkung, Orientierung und Anleitung auf der einen Seite, was er mit dem Begriff „Strenge“ zum Ausdruck bringt. Er braucht aber auch Vertrauen, Wertschätzung und Achtung, die sich im Begriff „Fairness“ äussern.