Der Leistungs- und Konkurrenzdruck hat in unserer Zeit erheblich zugenommen. Oliver James stellte das bereits im Jahr 1998 fest. Seitdem ist – das muss man so nüchtern betrachten – nichts besser geworden, im Gegenteil. Kann eine Reduktion die Menschen in eine bessere Lage versetzen?
Der allgemeine Leistungsdruck verschiebt seine Grenzen immer mehr nach unten. Und mit „unten“ sind hier die Kleinsten gemeint, die Kinder. Schon früh erfahren diese, dass sich im Arbeitsleben nur die Besten und Erfolgreichsten etablieren können. Wer sich den Erwartungen nicht anpassen kann (oder will), erfährt die Konsequenzen am eigenen Leib. Weltweit sind schon heute mehr als eine Milliarde Menschen arbeitslos, das ist ein Drittel der erwerbsfähigen Bevölkerung.
Der hart umkämpfte Arbeitsmarkt bringt ein weiteres Problem mit sich: Viele Arbeitsplätze wurden in den letzten Jahren „wegrationalisiert“, ein Ende dieser Tendenz zeichnet sich nicht ab. Das Stichwort lautet inzwischen oft: Digitalisierung. Doch wie man „das Kind auch nennt“, das Problem der Rationalisierung besteht schon länger. Der Soziologe Richard Sennet ermittelte bereits im Jahr 2000, wie das Leben eines qualifizierten Arbeitnehmers meist aussieht. In vierzig Berufsjahren muss ein Durchschnittsarbeitnehmer elf Mal die Stelle wechseln. Mit diesen Veränderungen einher geht die Anforderung, seine Basiskenntnisse im Laufe der Zeit mindestens dreimal erneuern zu müssen.
Die unbarmherzigen Anforderungen, die der Arbeitsmarkt stellt, führen nicht selten zur Überforderung. Aus dieser erwächst ein Verlust der Lebensfreude, Menschen werden depressiv, suchtanfällig oder beides. Und so beginnt schon in der Schule ein Überbietungskampf, der die Schule in ein neues Licht rückt. Nicht die Vorstellung, auf „das Leben“ vorbereitet zu werden, dominiert den Schulbesuch vieler Kinder, sondern das Erleben einer starken und permanenten grossen Anstrengung, die gepaart wird mit einem latenten (oder offenen) schlechten Gewissen. Durchhalten um jeden Preis, dieses Motto hat sich längst durchgesetzt.
Doch betroffen sind auch die Eltern, wie sich in Familientherapien immer wieder feststellen lässt. Denn das schlechte Gewissen (also die Angst , bei der Erziehung zu versagen) betrifft zahllose Eltern. Während zu Zeiten unserer Grosseltern die mit Autorität ausgestatteten Instanzen Kirche, Staat und Zünfte waren, sind inzwischen Autoritäten hinzugekommen, die Eltern überfordern und verwirren. Zudem weichen die „Weisheiten“ immer wieder voneinander ab, wie man allein an der Psychologie und der Pädagogik deutlich erkennen kann. Die Folgen sind das Ausbleiben einer Orientierungshilfe und widersprüchliche Ansätze, die Eltern verunsichern.
Wer den Anspruch hat, „alles richtig“ zu machen, vernachlässigt die eigenen individuellen und intuitiven Eingebungen und traut seinem eigenen Fingerspitzengefühl nicht mehr. Dies hat die Erkenntnis zur Folge, dass das Familienleben eine ungeheuer schwierige Pflichterfüllung sein muss.
Tradierte Normen wurden abgelöst
Es ist erst wenige Jahrzehnte her, als sich der Erfahrungshorizont eines Menschen auf sein nahes Umfeld beschränkte. Die Beziehungen ergaben sich aus dem Miteinander der Familienangehörigen, hinzu kamen Freunde und Bekannte sowie Vereine, Innungen oder kirchliche Organisationen. Diese Beziehungen prägten das Weltbild, prägten die Werte. Wer „aus der Rolle“ fiel, wurde meist mit Ablehnung und Isolierung gestraft.
Heute dagegen, das sagte schon Bonmot, leben wir in einem digitalen Dorf, verbunden mit nahezu unbegrenztem Informationsaustausch. Das Weltbild und die Werte sind inzwischen sehr unterschiedlich auslegbar, die Fülle von Nachrichten und Informationen lassen verschiedene Möglichkeiten zu, die Wahrheit (oder das, was wir dafür halten) auszulegen.
Auch das Wohnen hat sich verändert. Heute leben immer mehr Menschen in Ballungszentren, das persönliche Miteinander wurde durch ein anonymes Nebeneinander abgelöst. Zudem wird Mobilität erwartet, wenn sich in einer anderen Stadt ein Job anbietet, wird der Umzug dorthin als selbstverständlich vorausgesetzt. Gleichzeitig kann – oberflächlich betrachtet – jeder nach seiner Façon leben, spürt aber auch den Druck, seines „Glückes Schmied“ zu sein.
Das Problem des „Mehr-desselben-Motivs“
Wenn Werte sich verändern oder zum Teil verschwinden, kann es passieren, dass gerade jungen Menschen wichtige Anhaltspunkte fehlen. Sinnfindung rückt als individuelle Perfektionierung in den Vordergrund und führt zur Desorientierung. Die Selbstverwirklichung geht mit dem Erstellen einer Idealnorm einher, die in ihrer Gänze kaum zu erreichen ist. Erfolg, Reichtum, körperliche Fitness und soziale Beliebtheit sind in der Summe kaum realisierbar, es kommt zu einem Suchtverhalten nach Erfolg und/oder zu einer esoterischen Anziehungskraft.
Das von Paul Watzlawick beschriebene Mehr-desselben-Motivs entspricht dem Wunsch nach dem Wohlbefinden als Idealnorm. Glück, Lebensfreude, Hochstimmung, diese Attribute werden als erstrebenswert und „alternativlos“ bezeichnet. Doch eine solche Perfektion ist nicht erreichbar, und so entsteht aus dem Gefühl des Scheiterns eine schwere Kränkung, weil das Gefühl, versagt zu haben, am eigenen Selbstwertgefühl nagt. Dies wiederum führt zu dem, was Linden 2003 die „posttraumatische Verbitterungsstörung“ nannte. Sie führt zu Depressionen und Suchtanfälligkeit.
Das „Weniger-desselben-Motiv“ als Lösungsansatz
Das Weniger-desselben-Motiv nach Watzlawick grenzt sich vom Anspruch der Perfektionszwänge und der Idealnorm klar ab. Und es setzt dort an, wo heute die grossen Probleme von morgen entstehen: beim Kind.
Das Weniger-desselben-Motiv orientiert sich an der affektiven Welt des Kindes. In dieser Welt bekommt das scheinbar Belanglose, Unwichtige und Minimale eine wichtige Bedeutung, es kann ein spannendes Erlebnis werden und zur spontanen und spielfreudigen Erprobung des eigenen Könnens werden.
Es war Luther, der die „vernunftwidrige“ Reduzierung auf das affektiv Unmittelbare schön zusammenfasste: „Und wenn ich wüsste, dass morgen die Welt untergeht, würde ich heute doch ein Apfelbäumchen pflanzen.“ Und es gibt weitere Beispiele, die die Fokussierung auf das Jetzt deutlich demonstrieren.
Das vielleicht eindrucksvollste Beispiel liefert Edith Eger, eine jüdische Psychotherapeutin, die 1980 beschrieb, was geschah, als sie wie durch ein Wunder das Konzentrationslager Auschwitz überlebte. Sie stand in den Fängen des Nationalsozialismus zusammen mit ihrer Schwester nackt und kahlgeschoren vor der Gaskammer, ihr Ende schien besiegelt zu sein.
Doch in diesem Moment, so Eger, sei es ihr gelungen, eine Ausklammerung vorzunehmen, die sowohl all ihre Zukunftsaussichten als auch die rationale Einschätzung der Realität betraf. Diese Ausklammerung (die man beinahe schon als übermenschliche Leistung in Anbetracht der Rahmenbedingungen bezeichnen muss) führte zu einer so starken Gelassenheit, dass Eger zu ihrer Schwester sagen konnte: „Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du wunderschöne blaue Augen hast?“
In einem gänzlich anderen Lebensbereich äusserte sich der Philosoph Diogenes, als Alexander der Grosse vor ihn trat, um ihn zu fragen, was er sich wünsche. Diogenes antwortete „Tritt bitte einen Schritt zur Seite, damit ich mich weiter sonnen kann!“ (Zitat nach Elser 1992, 90).
Beide Beispiele verdeutlichen eine Fokussierung auf das buchstäblich Naheliegende, das Überschaubare und unmittelbar Gegebene. Alles, was über diese Gegebenheit hinausging, klammerten die beschriebenen Personen komplett aus, sie liessen es gedanklich gar nicht erst zu.
Die Lösung liegt nahe, sie liegt bei uns
Wie ein wesentlicher Teil der Lösung aussehen kann, machen uns Kinder immer wieder und wieder vor (es sei denn, sie sind bereits selbst zum Teil des oben beschriebenen Problems geworden).
Jean de La Bruyère, Erzieher des französischen Thronfolgers, erklärte zum Ende des 17. Jahrhunderts: “Die Kinder kennen weder Vergangenheit noch Zukunft und – was uns Erwachsenen kaum passiert – sie geniessen die Gegenwart.“ (Zitat nach Titze/Patsch 2006, 54)
Kinder schaffen es spielerisch, sowohl die Vergangenheit als auch die Zukunft auszublenden und sich auf die Gegenwart, auf das Jetzt zu reduzieren. Auf diese Weise ergibt sich auch eine Reduzierung von Stress. Man kann sich als Hilfsmittel einen Ballon vorstellen, der stetig aufgeblasen wird. Die Spannung steigt, vergleichbar mit grossem Denkaufwand bei Menschen, weil im Zeitraum des Aufblasens (von Ballons oder Problemen) immer neue Faktoren hinzukommen, die die Lösung schwieriger werden lassen.
Viele grosse Denker haben begriffen, dass der Weg der Reduktion eine Befreiung darstellt. Plutarch etwa merkte an: „Wer wenig braucht, wird nicht auf Vieles verzichten müssen!“
George Bernard Shaw kam in seinen späten Jahren zum Schluss: „Ich habe gelernt, vom Leben nicht viel zu erwarten. Das ist das Geheimnis aller echten Heiterkeit und der Grund, warum ich immer angenehme Überraschungen statt trostloser Enttäuschungen erlebe.“ (Zitat nach Titze/Patsch, 2006, 55)
Dabei sollte jedoch nicht angenommen werden, dass nur Höhen, nicht aber Tiefen zum Leben gehören. Es ist eine Frage des Umgangs mit ihnen. Wer immerzu hoch hinaus will und von einem Erfolg zum nächsten eilt, wird mit Schicksalsschlägen schlechter umgehen können. Wer sich dagegen auch in den „Niederungen des Lebens“ gut zurechtfindet, akzeptiert das Weniger-desselben-Prinzips und tut sich somit leichter, auch Misserfolge gut zu händeln.
„Aufwärtsvergleich“ versus „Abwärtsvergleich“
Psychotherapeuten stellen gerade bei der Arbeit mit depressiven Menschen immer wieder fest, dass diese zum Aufwärtsvergleich neigen. Das eigene Leben, das durch chronisches Unglücklichsein geprägt ist, wird mit Menschen verglichen, denen es besser geht. Ein Abwärtsvergleich findet nur selten statt, also der Vergleich mit Menschen, denen es weniger gut geht. Bei anderen Personengruppen – beispielsweise Krebspatienten – stellen sich ähnliche Reaktionen dar.
Der Philosoph Demokrit (1986, 268) erkannte schon vor langer Zeit die Destruktivität des Aufwärtsvergleichs und verwies auf die glücksbringende Dynamik des Abwärtsvergleichs. Er legte nahe, sich nicht auf Neid und Bewunderung zu konzentrieren, sondern den Blick auf das zu richten, was möglich ist und womit man zufrieden sein kann. „Denn“, so Demokrit, „wer die Besitzenden und von den anderen Menschen Glücklichgepriesenen bewundert und in Gedanken jede Stunde bei Ihnen verweilt, wird gezwungen, ständig etwas Neues zu unternehmen …“ Stattdessen empfiehlt der Philosoph, sich zu vergegenwärtigen, weshalb man sich glücklich schätzen kann.
Die Reduktion der eigenen Optimierungsansprüche eröffnet eine neue und realistische Sichtweise, die zu einem beruhigenden Gefühl und letztlich auch zu besserer Laune führt. Es macht sich ein Gefühl der Überzeugung darüber breit, dass man gut genug ist, ein Optimismus, der den Menschen an die Gewissheit des eigenen Könnens heranführt.