Eine lebenslange Verbindung: Geschwisterbeziehungen und ihre Bedeutung für die Ich-Entwicklung
Geschwisterbeziehungen prägen neben den Eltern die Entwicklung eines Menschen besonders intensiv. Sie spielen auch deshalb eine so bedeutende Rolle, weil sie – abgesehen von den Erstgeborenen – bis in die vorsprachlichen Tage der Kindheit zurückreichen und damit zu den dauerhaftesten Bindungen im Leben zählen. Die Eltern sterben, Freundschaften gehen in die Brüche und Intimbeziehungen lösen sich auf, aber die Geschwister bleiben rechtlich und emotional erhalten. Das gilt sogar dann, wenn sich der Kontakt auf ein Minimum beschränkt oder sogar vollständig abgebrochen wurde. Der Kommunikationsforscher Paul Watzlawick würde es wahrscheinlich so formulieren: Man kann mit Geschwistern keine Nicht-Beziehung führen. (vgl. Watzlawick et al., 2017)
In der Persönlichkeitsentwicklung spielt die Reflexion der Geschwisterbeziehungen eine zentrale Rolle. Deshalb beleuchten wir in diesem Beitrag die wichtigsten Aspekte von Geschwisterbeziehungen und deren Einfluss auf das spätere Leben.
Geschwisterrollen und Geschwisterkonstellationen
Ein Blick in die Ratgeberliteratur fördert aus individualpsychologischer Sicht teils seltsam anmutende, stark vereinfacht dargestellte Ergebnisse zutage: So veröffentlichte beispielsweise Kevin Leman im Jahr 1995 eine Eheglückstabelle, die günstige und ungünstige Geschwisterkonstellationen für Paare aufzeigt. Frank J. Sulloway erntete für sein Buch «Der Rebell der Familie» aus dem Jahr 1997 viel Kritik. Seine Aussagen über konservative Erstgeborene und die kreativen Zweitgeborenen erschienen seinen Fachkollegen zu oberflächlich und pauschalisierend.
Der wichtigste Aspekt: individuelle Wahrnehmung
Statt sich vor allem auf allgemeingültige Ergebnisse zu konzentrieren, sollte die einzigartige Situation des Kindes analysiert werden, um die Entwicklung des Individuums zu verstehen. Die Frage muss lauten: Welche Auswirkungen hat es, in der jeweiligen Familie und den Umgebungsbedingungen als Einzelkind oder als erstes, zweites, mittleres oder jüngstes Geschwisterkind aufzuwachsen? Hier stehen vor allem die Erfahrungen des Kindes und seine Interpretation im Vordergrund. Nur die Arbeit mit der individuellen Situation wird dem einzelnen Menschen gerecht.
Geschwisterbeziehungen: allgemeine Aussagen sind lediglich Tendenzen
Vorsichtige Versuche, der Geschwisterposition spezifische Verhaltens- oder Entwicklungstendenzen zuzuschreiben, führen zu folgenden Ergebnissen. Ein Hinweis vorweg: Hier werden nur Berichte wiedergegeben, sie werden nicht interpretiert. Die Erstgeborenen ebnen den jüngeren Geschwistern verschiedene Wege, wie das erste Aushandeln von Bett- und Ausgehzeiten. Genauso sind sie die ersten Sparringspartner der Eltern, wenn es zum Beispiel um sexuelle Aufklärung oder den Umgang mit ersten Beziehungserfahrungen geht. Die älteren Geschwister werden gerne als Vorbilder präsentiert, spielen die dominantere Rolle und die jüngeren Kinder eifern ihnen nach. Die mittleren Kinder berichten häufig, dass sie glauben, übersehen zu werden. Einige fühlen sich besonders wohl in ihrer Doppelrolle, einerseits das jüngere und andererseits das ältere Geschwister zu sein. Das Nesthäkchen-Dasein führt beim Nachwuchs in den meisten Fällen entweder zu einem originellen, charmanten Charakter oder – wenn sich das jüngste Kind vor allem schwach und unterlegen fühlt – zu einer ehrgeizigen Person, für die Anerkennung eine wichtige Rolle spielt.
Achtung: Diese Aussagen sind lediglich Tendenzen und müssen immer hinterfragt werden. Es könnte nämlich auch ganz anders sein.
Die Rolle des Einzelkindes: Risiken und Chancen
Einzelkinder sehen sich im Alltag noch immer mit Vorurteilen konfrontiert, die Wissenschaftler bereits widerlegen konnten. (vgl. Kasten, 2007) Unter Vorbehalt lassen sich folgende Tendenzen erkennen: Einzelkinder erhalten in der Regel die ungeteilte elterliche Fürsorge und Aufmerksamkeit, sie sind es gewohnt, mit Erwachsenen umzugehen. Dies führt nicht zwangsläufig zu verwöhntem Nachwuchs. Einige Einzelkinder zeigen sich selbstständig, andere entwickeln tatsächlich hedonistische Züge. Die Gefahr besteht, dass die Erwachsenen ihre Erwartungen und ihren persönlichen Ehrgeiz auf ihren einzigen Sprössling konzentrieren und ihn damit stark unter Druck setzen. Um Schwierigkeiten im Umgang mit Altersgenossen vorzubeugen, sollten Einzelkinder diese Fähigkeit in Spielgruppen oder der Kita lernen.
So beeinflussen Geschwisterbeziehungen die Bildung der Identität
Jeder Mensch besitzt den inneren Antrieb, als einzigartiges Individuum seinen Platz, seine Nische zu finden und zu besetzen. Sie suchen die Aufmerksamkeit und Liebe der Eltern, die sie je nach ihrem Geschlecht, dem Platz in der Geschwisterfolge, ihrem Temperament und den körperlichen Merkmalen auf unterschiedliche Art erhalten. Sie experimentieren mit verschiedensten Strategien und behalten die erfolgreichen Vorgehensweisen oft ein Leben lang bei. Anders ausgedrückt: Wenn zum Beispiel der ältere Bruder ein leistungsorientierter Ausdauersportler ist, könnte die jüngere Schwester versuchen, ihn im Sport zu übertrumpfen oder sich als intellektuelles Mädchen präsentieren, das sich mit Yoga gesund hält. Mit der zweiten Variante nimmt sie die Komplementärrolle ein. Die Konstellation der Komplementärrollen tritt sehr häufig auf.
Eltern wundern sich, wenn sich Geschwister so gegensätzlich entwickeln, obwohl sie ähnlich erzogen wurden. Dazu ist anzumerken: Eltern können zwei Kinder nicht gleich erziehen, denn auch die Erwachsenen verändern sich in ihrer Elternrolle über die Zeit. Darüber hinaus führt das gleiche erzieherische Verhalten bei zwei Kindern zwei unterschiedliche Reaktionen hervor.
Lernfeld Geschwister: intensive Emotionen garantiert
Die Beziehung zu den Geschwistern beeinflusst die weitere Entwicklung eines Menschen so nachhaltig, weil sie von intensiven Emotionen begleitet ist.
Aus der Hirnforschung wissen wir, dass Lernprozesse eng mit Gefühlen zusammenhängen. Erfahrungen, die mit intensiven Gefühlen einhergehen, verankern sich besonders tief im Gedächtnis. Die Gefühle dienen als Bewertungssystem, das die Relevanz eines Ereignisses für das eigene Dasein beurteilt. In der Familie erleben Geschwister starke Emotionen – von Wärme, Verbundenheit und Liebe bis hin zu Hass, Eifersucht und Konkurrenz. Aus diesem Grund ziehen sich diese frühen Beziehungserfahrungen, genauer gesagt, die Schlussfolgerungen, die eine Person daraus zieht, wie ein roter Faden durch das weitere Leben.
Geschwisterbeziehungen: einzigartig widersprüchlich
Die eben beschriebenen Emotionen verweisen auf einen zusätzlichen Aspekt: Geschwisterbeziehungen stecken voller Widersprüche. Sie sind das Hauptübungsfeld für das spätere Leben. Eine Schwester kann Vorbild sein («So will ich sein.») oder Elternersatz genauso wie eine Verbündete gegenüber den Eltern. Genauso fungiert sie als Abgrenzungsobjekt («So möchte ich nie werden.»), Konkurrentin im Kampf um elterliche Zuwendung und Hassfigur. Der Schriftsteller Kurt Tucholsky formulierte sehr prägnant: «Wilde Indianer sind entweder auf Kriegspfad oder rauchen die Friedenspfeife – Geschwister können beides.»
Überwiegen die positiven Aspekte, ist eine Geschwisterbeziehung ein Leben lang eine verlässliche Quelle für ehrlichen Austausch und emotionalen Halt. Und damit auch für das eigene Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein.
FAZIT
Ihre Art zu denken und zu fühlen, die Art, wie Sie Beziehungen gestalten, wie Sie sich im Alltag verhalten, welche Vorlieben und Abneigungen Sie haben und sogar die Wahl von Lebenspartnern hängen viel stärker mit Ihren Geschwisterbeziehungen zusammen, als Sie vermuten. Natürlich tragen auch andere Personen zur individuellen Entwicklung bei: Nachbarn, Schulfreunde, Lehrer:innen und Idole, etwa Musiker:innen oder Sportler:innen. Doch die ersten und intensivsten Erfahrungen erleben junge Menschen mit ihren Geschwistern und Eltern. Diese Beziehungserfahrungen sind die Basis, auf der Kinder mit Personen ausserhalb der Familie in Kontakt treten, von den Nachbarskindern bis zu den späteren Arbeitskolleg:innen.
Geschwisterbeziehungen und Selbsterkenntnis: Erfahrungen aus der Praxis
Oft berichten Teilnehmer:innen unserer Ausbildung an der Akademie für Individualpsychologie im Bereich der psychosozialen Beratung, dass sie «schon immer» als vertrauenswürdig galten und ihr Umfeld sie als Gesprächspartner sehr schätzt. Die Reflexion der eigenen Biografie zeigt regelmässig, dass die hohe Empathie und die starke Kommunikationsfähigkeit in herausfordernden Familienkonstellationen trainiert wurden. Sandra F. (47) erzählt, dass ihr als ältere Schwester die Aufgabe übertragen wurde, den kleinen Bruder mit Down-Syndrom zu beaufsichtigen. Frau F. lernte, auf die kleinsten emotionalen Signale des Bruders und der Eltern zu achten, um im passenden Moment positive Zuwendung zu erhalten – diese Augenblicke waren selten und kostbar. Sie wollte keinen davon verpassen. Gleichzeitig ermöglichte ihr die Achtsamkeit im Umgang mit ihrem Bruder, dass er sie vergötterte und diese Anerkennung tat ihr gut. Bernhard Z. (55) entwickelte seine empathischen Fähigkeiten aufgrund seiner über alles geliebten, blinden älteren Schwester. Als kleiner Junge wollte er unbedingt verstehen, wie ein blinder Mensch die Welt wahrnimmt. Anders ausgedrückt: Er wollte seiner Schwester nahe sein und in ihre Welt eintauchen.
Das Ich braucht immer ein Du, um sich zu entwickeln. Im Rahmen unserer Kurse lernen Sie, Ihre eigenen grundlegenden Muster wahrzunehmen und Sie werden die Bedeutung Ihrer Geschwister für Ihren Lebensstil erkennen. Nutzen Sie die Gelegenheit für diese spannende Reise zu Ihren Wurzeln.
Lernen Sie die Akademie für Individualpsychologie und unser Kursangebot bei einem der nächsten Informationsabenden kennen Wir beantworten Ihre Fragen gerne persönlich.
Quellen:
Watzlawick, Paul, et al. (2016): Menschliche Kommunikation: Formen, Störungen, Paradoxien. Hogrefe Verlag.
Leman, Kevin (1995): Füreinander geboren Wie die Geschwisterreihe unsere Partnerwahl prägt. Herder Verlag.
Kasten, Hartmut (2007): Einzelkinder und ihre Familien. Hogrefe Verlag.
INFOVERANSTALTUNG BESUCHEN
BROSCHÜRE HERUNTERLADEN
EINBLICK INS STUDIUM – STUDIERENDE BERICHTEN