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Kompensationsbewegung verstehen für mehr Gelassenheit

Blog Kompensationsbewegung

Kompensationsbewegung verstehen für mehr Gelassenheit!

Wer die Kompensationsbewegung des Menschen versteht, kann mit Minderwertigkeit und Überlegenheit besser umgehen. Merkmale und Wege zurück zur Gleichwertigkeit.

 

Wer die Kompensationsbewegung des Menschen besser versteht, kann mit Minderwertigkeit und Überlegenheit besser umgehen. Ob im Beruf, in der Familie oder im Freundeskreis: Jeder Mensch kennt Situationen, in denen er sich klein und unsicher fühlt – oder im Gegenteil besonders stark auftreten muss, um sich zu behaupten. Beides sind Versuche, mit innerem Ungleichgewicht umzugehen. Die gute Nachricht: Es gibt einen gesunden Weg dazwischen – die Haltung der Gleichwertigkeit. Sie schenkt innere Ruhe, stärkt Beziehungen und gibt Orientierung.

Die Individualpsychologie erklärt diese Bewegungen mit dem Begriff Kompensationsbewegung – ein Versuch, ein inneres Ungleichgewicht auszugleichen. Die drei Ebenen – Gleichwertigkeit, Minderwertigkeit und Überlegenheit (Überkompensation) – lassen sich im Alltag beobachten und bewusst gestalten. Dieser Beitrag zeigt, wie sie entstehen, woran man sie erkennt und wie der Weg zurück in die Gleichwertigkeit gelingt.

 

1. Was versteht die Individualpsychologie unter Kompensationsbewegung?

Jeder Mensch sucht nach innerem Ausgleich. Wer sich klein oder unsicher fühlt, entwickelt bewusst oder unbewusst Strategien, um dieses Gefühl zu kompensieren.

In der Individualpsychologie spricht man dabei auch von den sogenannten Nahzielen des Verhaltens. Damit sind die kurzfristigen Ziele gemeint, die ein Mensch unerkannt verfolgt, wenn er aus dem Gleichgewicht geraten ist. Typischerweise lassen sich vier Grundmuster unterscheiden:

  • Aufmerksamkeit: «Sieh mich, nimm mich wahr.»
  • Macht: «Ich will bestimmen, ich lasse mir nichts sagen.»
  • Rache: «Ich will zurückgeben, was mir angetan wurde.»
  • Resignation: «Ich gebe auf, ich kann sowieso nichts ändern.»

Diese Nahziele sind keine bewussten Entscheidungen, sondern unbewusst gewählte Strategien, die helfen sollen, mit einem Gefühl von Minderwertigkeit oder Unsicherheit umzugehen. Wer sie kennt, kann Verhalten im Alltag leichter einordnen sowohl bei sich selbst als auch bei anderen.

Dabei zeigen sich drei typische Ebenen: Gleichwertigkeit – Minderwertigkeit – Überlegenheit:

 

a) Gleichwertigkeit – die gesunde Basis

Gleichwertigkeit bedeutet nicht, dass alle Menschen gleich sind, sondern dass alle denselben Wert haben. Sie lebt aus der Haltung: Jeder Mensch ist gleich wertvoll – ich selbst eingeschlossen.

Merkmale:

  • Konstruktives Miteinander, auch bei unterschiedlicher Meinung
  • Respektvoller Umgang im Alltag
  • Gelassenheit ohne Bedürfnis nach Überlegenheit

Alltagsbeispiel: In einer Freundschaft hören beide Seiten zu, auch wenn sie verschiedener Meinung sind. Die Wertschätzung bleibt bestehen (Gleichwertigkeit). Der eine versucht den andern von seiner Meinung zu überzeugen und hört nicht zu (Überlegenheit). Der eine lässt sich von der Meinung des andern verunsichern und steht nicht für seine Meinung ein (Minderwertigkeit).

Kompensationsbewegung: In einer Freundschaft hören beide Seiten zu, auch wenn sie verschiedener Meinung sind. Die Wertschätzung bleibt bestehen (Gleichwertigkeit). Der eine versucht den andern von seiner Meinung zu überzeugen und hört nicht zu (Überlegenheit). Der eine lässt sich von der Meinung des andern verunsichern und steht nicht für seine Meinung ein (Minderwertigkeit).

b) Minderwertigkeit – Antrieb, Zugehörigkeit und Gefahr zugleich

Minderwertigkeitsgefühle kennt jeder. Sie können lähmen, aber auch als Antrieb dienen, sich weiterzuentwickeln. Wer merkt, dass ihm etwas fehlt, kann sich neues Wissen aneignen, eine Fähigkeit trainieren oder den Mut finden, einen neuen Schritt zu wagen.

Problematisch wird es, wenn das Gefühl «nicht gut genug zu sein» zu übermässiger Selbstkritik, Rückzug oder zwanghaftem Perfektionismus führt.

Merkmale:

  • Vermeidendes Verhalten aus dem Gefühl heraus, das schaffe ich eh nicht und typische Sätze beginnend mit «ja, aber…»
  • Rückzug aus dem Gefühl heraus, das kann ich eh nicht
  • Passivität
  • Antrieb sich mehr Wissen anzueignen

Alltagsbeispiel: Eine Studentin fühlt sich unsicher beim Präsentieren und besucht einen Rhetorikkurs. Sie kann daran wachsen und ihre Unsicherheit überwinden (Gleichwertigkeit). Sie kann in ein endloses „es ist noch nicht gut genug“ kippen und noch mehr Kurse besuchen (Überkompensation) oder sie kann in den Rückzug/Vermeidung gehen aufgrund eines gefühlten «nicht gut genug» beim Präsentieren (Minderwertigkeit).

Kompensationsbewegung: Eine Studentin fühlt sich unsicher beim Präsentieren und besucht einen Rhetorikkurs. Sie kann daran wachsen und ihre Unsicherheit überwinden (Gleichwertigkeit). Sie kann in ein endloses „es ist noch nicht gut genug“ kippen und noch mehr Kurse besuchen (Überkompensation) oder sie kann in den Rückzug/Vermeidung gehen aufgrund eines gefühlten «nicht gut genug» beim Präsentieren (Minderwertigkeit).

Minderwertigkeit ist eng mit unserem Bedürfnis nach Zugehörigkeit verknüpft. Wer glaubt, keinen Platz in einer Gemeinschaft zu haben, entwickelt oft Strategien, um diesen Mangel auszugleichen – sei es durch Aufmerksamkeitssuche, Anpassung, Rückzug oder Dominanz. Das eigentliche Ziel bleibt: einen sicheren Platz im Kreis der anderen zu finden.

Hier setzt die Ermutigung an: Menschen brauchen nicht perfekte Leistungen, sondern die Erfahrung, dass sie trotz Fehlern dazugehören. Wenn wir erleben, dass unser Beitrag zählt, auch wenn er nicht fehlerfrei ist, wächst das Gefühl von Zugehörigkeit. Eine hilfreiche Haltung dazu lautet: Mut zur Unvollkommenheit oder Mut nicht perfekt zu sein. Wer akzeptiert, dass Fehler Teil des Lebens sind, bleibt handlungsfähig und verliert die Angst vor dem Scheitern.

 

c) Überlegenheit/Überkompensation – Unsicherheit im Kostüm der Stärke

Überkompensation bedeutet ein übers Ziel hinausschiessen: Das innere Gefühl der Minderwertigkeit wird durch übertriebenes Geltungsstreben, Macht oder Perfektion überdeckt.

Merkmale:

  • Übertriebene Selbstdarstellung und das Bedürfnis, im Mittelpunkt zu stehen
  • Dominanzverhalten oder starkes Kontrollbedürfnis
  • Perfektionismus
  • Übersteigerte Strenge und hoher Leistungsdruck
  • Exzessiver Sport oder suchtartiges Verhalten (z.B. Arbeitssucht, Alkohol, exzessiver Konsum)
  • Starker Geltungsdrang in Statussymbolen oder Selbstdarstellung

Alltagsbeispiel: Ein Mitarbeiter stellt sich oft in den Mittelpunkt und prahlt mit all seinen Weiterbildungen und den Erfolgen, die er seiner Firma schon beschafft hat (Überlegenheit). Er bringt sein Wissen dort ein, wo es sinnvoll ist (Gleichwertigkeit). Er hält sein Wissen zurück aus Angst es könnte kritisiert oder belächelt werden (Minderwertigkeit).

Kompensationsbewegung: Ein Mitarbeiter stellt sich oft in den Mittelpunkt und prahlt mit all seinen Weiterbildungen und den Erfolgen, die er seiner Firma schon beschafft hat (Überlegenheit). Er bringt sein Wissen dort ein, wo es sinnvoll ist (Gleichwertigkeit). Er hält sein Wissen zurück aus Angst es könnte kritisiert oder belächelt werden (Minderwertigkeit).

 

2. Was bringt mir dieses Verständnis der Kompensationsbewegung?

Das Verständnis von Kompensationsbewegungen hilft, Verhalten anders zu deuten:

  • In Beziehungen: Streit oder verletzende Kritik sind oft keine Bosheit, sondern Ausdruck von Unsicherheit.
  • Im Beruf: Rückzug, Mikromanagement oder übertriebene Selbstdarstellung lassen sich gelassener einordnen, da die eigentlichen Bedürfnisse hinter dem Verhalten besser verstanden werden können.
  • Für sich selbst: Wer erkennt, wann er sich kleinmacht oder überkompensiert, kann bewusst einen Schritt in Richtung Gleichwertigkeit gehen.

Die Nahziele sind dabei ein wertvolles Orientierungsinstrument: Sie zeigen, welche unbewussten Strategien hinter einem Verhalten stecken und eröffnen Wege, konstruktiv darauf zu reagieren.

 

3. Wie erkenne ich Kompensationsbewegungen – inkl. Selbstreflektionsfragen

Achten auf Verhältnismässigkeit

Gleichwertigkeit: Offenheit, Kooperation, Gelassenheit.

Minderwertigkeit: Schweigen trotz innerem Bedürfnis, sich mitzuteilen; sich nicht gut genug fühlen; übermässige Selbstkritik.

Überkompensation: Übertriebene Selbstdarstellung, Dominanzverhalten oder starkes Kontrollbedürfnis; übersteigerter Perfektionismus; exzessiver Sport oder suchtartiges Verhalten.

 

Unverhältnismässiges Verhalten

Unverhältnismässig bedeutet: Die Reaktion passt nicht zur Situation.

Beispiele:

  • Exzessive Leistung, um Anerkennung zu erhalten
  • Übertriebene Strenge, um sich überlegen zu fühlen
  • Starke Empfindlichkeit, weil Kritik als Bestätigung von Minderwertigkeit erlebt wird
  • Dominanzreaktion, um Kontrolle zu sichern

 

Fragen zur Selbstreflektion

  • Wann suche ich Anerkennung oder Bestätigung und wie wirkt sich das auf mein Verhalten aus?
  • In welchen Situationen versuche ich, mich durchzusetzen oder Kontrolle auszuüben, anstatt im Dialog zu bleiben?
  • Wann neige ich dazu, mich verletzt zurückzuziehen oder anderen etwas heimzahlen zu wollen?
  • In welchen Momenten gebe ich innerlich auf oder ziehe mich zurück, obwohl ich eigentlich teilhaben möchte?
  • Wann gelingt es mir, eine gleichwertige Haltung zu mir selbst und anderen wirklich zu spüren?

 

Wie kann man mehr in die Gleichwertigkeit kommen?

a) Selbstreflektion üben

  • Eigene Muster erkennen, ohne sich zu verurteilen
  • Tagebuch führen oder Gespräche mit Vertrauenspersonen

 

b) Mut zur Gleichwertigkeit entwickeln

  • Innere Haltung: Ich darf so sein, wie ich bin und du darfst es auch.
  • Anerkennen, dass jedes Individuum im Rahmen seiner Möglichkeiten sein Bestes gibt
  • Den Mut entwickeln, unvollkommen sichtbar zu sein – Fehler gehören zum Leben

 

c) Praktische Schritte im Alltag

Ungünstiges MusterAlternative – gelebte Gleichwertigkeit
AnerkennungssucheSich für Erfolge selbst Anerkennung geben
MachtstrebenZuhören üben, das Gegenüber hat auch wichtiges zu sagen
Rache / Kritik Gefühle ansprechen statt Vorwürfe machen
Rückzug (Resignation)In kleinen Schritten sichtbar werden, eine Meinung äussern

 

d) Unterstützung als Chance

Manchmal hilft ein vertrauensvolles Gegenüber, wie z.B. individualpsychologische Berater/innen, neue Perspektiven aufzuzeigen. Es kann ermutigen, alte Muster zu hinterfragen und den Mut stärken, Schritt für Schritt neue Wege zu gehen.

Kompensationsbewegung: Manchmal hilft ein vertrauensvolles Gegenüber, wie z.B. individualpsychologische Berater/innen, neue Perspektiven aufzuzeigen. Es kann ermutigen, alte Muster zu hinterfragen und den Mut stärken, Schritt für Schritt neue Wege zu gehen.

 

Fazit – Klarheit, Wachstum und Gemeinschaft

Die drei Ebenen der Kompensationsbewegung – Gleichwertigkeit, Minderwertigkeit und Überkompensation – gehören zum Menschsein.

Minderwertigkeit ist nicht nur Schwäche, sondern kann ein Motor für Entwicklung sein. Entscheidend ist, dass sie uns nicht in Rückzug oder Perfektionismus treibt, sondern uns motiviert, Neues zu lernen. Mit Zugehörigkeit, Ermutigung und Mut zur Unvollkommenheit lässt sich aus Minderwertigkeit ein gesunder Antrieb machen.

Überkompensation ist ein Warnsignal: Sie zeigt Unsicherheit, die im Gewand von Stärke auftritt. Wer dies erkennt, kann milder mit sich und anderen umgehen.

Gleichwertigkeit ist die gesunde Mitte. Sie schenkt innere Ruhe, Selbstvertrauen und fördert ein kooperatives Miteinander.

Die Nahziele machen sichtbar, welche Bewegungen uns im Alltag antreiben. Doch der Weg hinaus bleibt derselbe: Mut, Ermutigung, Zugehörigkeit und die Bereitschaft, das Gute als gut genug anzunehmen.

So entsteht das, was Adler als höchstes Ziel sah: ein starkes Gemeinschaftsgefühl, in dem Menschen sich selbst wertschätzen und andere in ihrer Einzigartigkeit anerkennen.

 

Quellen (zur Vertiefung):

  • Alfred Adler: Menschenkenntnis. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch.
  • Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
  • Rudolf Dreikurs: Psychologie im Alltag. München: Ernst Reinhardt Verlag.
  • Jürg Frick: Die Kraft der Ermutigung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
  • Theo Schoenaker: Das Leben selbst gestalten – Mut zur Unvollkommenheit. Stuttgart: Klett-Cotta.

 

Autorin:

Tanja Burgener, Individualpsychologische Beraterin AFI und Leiterin Marketing und Bildungsberatung WISS Wirtschaftsschule für Wirtschaft Informatik Immobilien AG.

 

Berater/in finden oder einen qualifizierten Abschluss in Individualpsychologie erwerben

Wünschst du dir Unterstützung bei deinem Weg zu mehr Gleichwertigkeit oder möchtest du selber Menschen helfen ihre Kompensationsmuster zu erkennen und zu verändern? Dann ist vielleicht unsere Ausbildung etwas für dich:

Ausbildung zum/zur individualpsychologischen Berater/in AFI
Die Akademie für Individualpsychologie (AFI) bietet eine 3-jährige berufsbegleitende Ausbildung dazu an. Zusätzlich besteht die Möglichkeit, den eidgenössisch anerkannten Titel «Berater/in im psychosozialen Bereich mit eidgenössischem Diplom HFP» zu erwerben. Eine Anerkennung durch den Berufsverband mit dem Qualitätslabel psychosoziale/r Berater/in SGfB steht nach der Ausbildung ebenfalls offen.
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