Interview mit Tamara Büttner
„Nicht das Problem ist das Problem, sondern die Lösung des Problems.“
Virginia Satir
Wir freuen uns sehr, dass Tamara Büttner, unsere neue Dozentin für Familienberatung, uns als Expertin heute Rede und Antwort steht.
AFI: «Liebe Tamara, worauf achtest Du, wenn eine Familie Deinen Beratungsraum zu ersten Mal betritt?»
Tamara Büttner:
«Die erste Begegnung ist besonders aufschlussreich. Zum einen werden Lebensgestaltungsaspekte der einzelnen Familienmitglieder sichtbar. Ihre Meinungen zu Verhalten und Ideen wie das Leben miteinander zu funktionieren hat. Erwartungen sowie auch Enttäuschungspotential. Aber auch erste Ansätze, wie das Familiensystem funktioniert, zeigen sich.
Das bedeutet, ich achte auf verbale und ganz besonders auf nichtverbale Äusserungen der einzelnen Personen: Wie verhalten sie sich untereinander? Werden Hierarchien sichtbar? Erkenne ich positive Dynamiken in der Familie, wo könnten ihre Stärken liegen? Wie treten sie mir gegenüber?
Einmal kam zum Beispiel eine Familie zur Beratung. Der Mann trat zielstrebig auf mich zu, begrüsste mich mit festem Blick und kraftvollem Händedruck. Dann setzte er sich ohne Umschweife auf „meinen“ Stuhl.
Seine Frau stand währenddessen noch im Türrahmen, die Hände auf den Schultern ihres Kindes. Sie schaute mich unsicher an. Mutter und Kind betraten erst nach meiner Aufforderung den Raum. Sie nahmen erst Platz, nachdem ich sie dazu einlud und auf die noch freien Sitzmöglichkeiten zeigte. Der Sohn blieb bei der Mutter auf dem Schoss.
So einen ersten Eindruck merke ich mir und ich achte während des Gesprächs darauf, ob und wo sich dieses Verhalten im Gespräch konkret zeigt oder in Berichten über den Alltag der Familie auftritt.»
AFI: «Kommen wir zu einem wichtigen Aspekt am Beginn eines Beratungsprozesses: Wie klärst Du den Auftrag in der Familienberatung. Wie gehst Du vor?
Tamara Büttner:
«Oft erfahre ich den Anlass der Beratung bereits bei der Terminvereinbarung. Während des ersten Gesprächs greife ich das Thema wieder auf. Ich frage die einzelnen Familienmitglieder, was aus ihrer Sicht insgesamt gut läuft.
Mir geht es darum, vorhandene Ressourcen ausfindig zu machen und nach Lösungen zu suchen. Aus diesem Grund konzentriere ich mich weniger auf die Problembeschreibung, sondern vielmehr auf die positiven Möglichkeiten der Familie. Diese Perspektive in den Fokus zu nehmen erfordert ein etwas beraterisches Geschick, denn Ratsuchende sind meist sehr von ihrem Problem eingenommen. Wir sprechen hier von einer „Problemtrance“.
Wenn wir es schaffen, den Blick von den Schwierigkeiten zu lösen, erleben die Klient/innen dies als sehr befreiend. Sie erkennen: Es gibt Dinge, die wir als Familie gut können. Uns verbindet mehr als unsere Probleme.
Den Auftrag erarbeiten alle gemeinsam. Idealerweise baut er auf den Ressourcen der Familie auf und ist als Entwicklungsziel für die ganze Familie formuliert. Es soll vermieden werden, einen Sündenbock zu finden. Mir geht es immer um Lösungen!
In einem Fall sprach die Mutter bei der Terminvereinbarung von dem unmöglichen Verhalten des Sohnes, welches alle in Rage versetzt. In der Beratung fragte ich den Sohn, ob er eine Ahnung hätte, weshalb sie heute als Familie hier sind und er antwortete darauf, «weil meine Eltern so viel miteinander streiten und ich dann schuld daran sein soll». Als Familie wurde der Auftrag dann nach einigem Ringen so formuliert: «Wie können wir ehrlich miteinander reden?»
AFI: «Was machst Du, wenn ein Elternteil oder Kind sich nicht beteiligen will?»
Tamara Büttner:
«Aufgrund des hier bewusst systemischen Vorgehens tritt dieser Fall sehr selten ein. Falls es trotzdem dazu kommt, würde ich der Person sagen, dass ich gerade an ihrer Meinung interessiert bin. Natürlich muss ich das in dem Moment tatsächlich so empfinden.
Meine Hauptziele liegen darin, eine tragfähige Beziehung zwischen mir und der Familie herzustellen sowie eine Zusammenarbeit der Familienmitglieder untereinander zu erreichen. Deshalb gehe ich äusserst respektvoll mit jedem Individuum und seiner Meinung um. Damit erschwere ich es allen, sich nicht zu beteiligen.
Sollte ich erkennen, dass jemand sich nicht traut, vor der Familie offen zu sprechen, kann auch ein Einzelgespräch sinnvoll sein. Das Gespräch würde ich dann so einleiten: «Ich spüre, X hat eine Not. Deshalb würde ich gerne mit X erst alleine reden. Ist das in Ordnung?»
In der Familienberatung habe ich eine Verweigerung so direkt noch nicht erlebt – im Gegensatz zur Paarberatung. Hier biete ich dem Paar Einzelgespräche an und erkläre, dass es sinnvoll ist, einmal alles aussprechen zu dürfen. Erfahrungsgemäss halten beide Seiten manche Dinge zurück, um den anderen nicht zu verletzen.
Dieser Gedanke ist gleichzeitig sehr hilfreich für mich, um das Paar zu stärken und zu ermutigen. Ich drücke das so aus: «Ihr Verhalten zeigt mir den grossen Respekt, den Sie sich gegenüber leben. Sie möchten sich gegenseitig nicht verletzen oder blossstellen. Das ist ein sehr wertschätzender Umgang miteinander und stellt eine gute Grundlage für die Partnerschaft dar.»
AFI: «Wie bildest Du Hypothesen? Was beobachtest Du, wenn Du Sätze sagst wie «Ich habe einige Ideen, möchten Sie diese hören?»
Tamara Büttner:
«Da gibt es einiges (lacht). Als individualpsychologische Beraterin schöpfe ich aus einer umfassenden Quelle. Durch Fragen versuche ich zu verstehen, wie die Kommunikation innerhalb der Familie funktioniert und wie sich die Beziehungen gestalten.
Aus den Beobachtungen leite ich Hypothesen (Vermutungen) ab, die ich mit den Familienmitgliedern teile. Ich frage dann zum Beispiel «Könnte es sein, dass Verhalten von X ihren Bruder kränkt?». Wenn ich mich vergewissere, ob die Klient/innen meine Ideen hören möchten, beobachte ich Mimik und Gestik. Ich versuche, Zustimmung, Reserviertheit und Ablehnung genauso wie gespannte Erwartung, Hoffnung oder Angst zu erkennen. Falls ich etwas Schwieriges ansprechen möchte, frage ich zuerst, ob dies gewünscht ist mit einem «Darf ich ehrlich sein?». Die meisten Ratsuchenden reagieren interessiert und offen auf diese Frage.»
AFI: «Welche Intervention wendest Du in der Familienberatung gerne an?»
Tamara Büttner:
«Individualpsychologische Methoden, die ich gerne verwende, sind der finale Ansatz, die Analyse der Geschwister- und Familienkonstellation, die Strategie des Herstellens von Gleichwertigkeit und natürlich – extrem wichtig – die Ermutigung.
Die Wunderfrage sowie die Verschlimmerungsfragen empfinde ich als sehr aufschlussreich. Diese Fragen gehen zurück auf Alfred Adler. Im Zentrum von Adlers Beratungsverständnisses steht eine Frage an die Klienten im Mittelpunkt: „Was würden Sie tun, wenn Sie bei mir Ihre Heilung erlangten?“ (Brunner & Titze, 1995). Adler wusste, wie wichtig die Antwort auf die Frage «Wozu?» für den Therapieerfolg ist. Statt sich auf das Negative zu versteifen, ermutigt und motiviert diese Frage. Sie stellt das Ziel und den Sinn ins Zentrum.
Alternativ kann ich fragen: «Was wäre anders, wenn die Familie dieses Problem nicht hätte?» Adler ging es darum, Hintergründe und Zusammenhänge zu erfahren, denn die Sicht der Betroffenen öffnet das Tor zur Lösung.
AFI: «Alfred Adler hat dieses Konzept, das heute voll im Trend liegt und sehr gut wissenschaftlich untermauert ist, schon früh entwickelt.»
Tamara Büttner:
«Alfred Adler kann man tatsächlich als den Grossvater und Vordenker vieler einflussreicher moderner Therapieschulen bezeichnen. Seine Individualpsychologie hat sich durch die Zeiten hindurch erhalten und nichts an Qualität und Praktikabilität verloren.»
AFI: «Das stimmt, ein sehr passendes Bild.»
Tamara Büttner:
«Mir fällt noch ein wichtiges Beispiel in der Familienberatung ein: Auf der Verhaltensebene eröffnet der Blick auf den Tagesablauf der Familie oft die Möglichkeit zur Veränderung. In einer Familie etwa fühlte sich die Mutter als „Taxi-Dienst“ sehr gestresst. Durch kleine Umstrukturierungen im Tagesablauf (die Tochter bekam die Erlaubnis, nach der Schule zweimal pro Woche bei der Freundin zu essen und dann direkt zum Sport zu gehen), entspannte sich die Situation für alle Beteiligten. Die Mutter war bei dieser Lösung gefordert, ihre Tochter nicht nur als zusätzlichen Esser am Tisch der anderen Familie zu sehen, sondern auch die Chancen der Situation zu erkennen. Die Kinder würden ihre Freundschaft vertiefen und für die Mütter würde sich die Gelegenheit zum Austausch bieten.
Weitere Techniken, die ich sehr schätze, stammen aus der systemischen Therapie, etwa das Reframing oder die zirkulären Fragen. Sie unterstützen Ratsuchende beim Perspektivenwechsel.
Beim „Um die Ecke“-Fragen nehmen die Beteiligten gezielt unterschiedliche Positionen und Sichtweisen ein. Ein Beispiel wäre die Frage: «Wie würden die Grosseltern ihre Situation beschreiben?»
Je besser es gelingt, Dynamik in das Familiensystem zu bringen, umso besser kann ich beobachten. Dabei geht es mir immer um die Stärkung und Aktivierung der Ressourcen der Familie mit dem Ziel „Probleme selbständig zu lösen“.
Immer wieder erlebe ich, dass die wichtigste Grundlage für eine gute Beratung eine tragfähige Vertrauensbasis zwischen der Beratungsperson und jedem einzelnen Familienmitglied ist. Darauf achte ich besonders.»
Übrigens dachte bereits Alfred Adler systemisch. Er schrieb 1914: „Jeder Teil steht mit dem Ganzen in Zusammenhang, und wir verstehen den Teil erst dann, wenn wir das Ganze begriffen haben.“(aus: Datler, Wilfried et al. (2009). Alfred Adler. Schriften zur Erziehung und Erziehungsberatung (1913-1937). Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht.)
AFI: «Herzlichen Dank für die ausführlichen und spannenden Einblicke, Tamara.»
Tamara Büttner begleitet ihre Klient/innen als individualpsychologische Beraterin (API) in eigener Praxis. Sie bringt umfassendes Knowhow und Erfahrung als Individualpsychologie-Coach (API), Beraterin für individualpsychologische Lebensstilanalyse (API) und Familienrat-Trainerin (Verein für praktizierte Individualpsychologie, VpIP) in ihre Arbeit ein.
Seit 2023 zählt sie zum Ausbildungs-Team des Adler-Pollak-Instituts (API) in Rheinland-Pfalz (D).
Das Interview wurde von der Akademie für Individualpsychologie AFI geführt.
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