Die Kraft der Präsenz oder ein voller Methodenkoffer: Welche Faktoren führen zum Ziel in der Beratung und im Coaching?
Während meines Studiums vor gut 40 Jahren waren Beratungsbücher und Selbsthilferatgeber spärlich. Die meiste Literatur wurde aus dem Englischen übersetzt. Es war eine grosse Herausforderung, umfassendes Wissen über verschiedene Beratungsmethoden oder die Wirksamkeitsfaktoren einer Beratung zu erhalten.
Über Jahrzehnte habe ich selbst Beratungspersonen ausgebildet. Oft wiederholte ich dabei das Folgende: «Individualpsychologische Beratung ist eine Haltung». Und das entspricht bis heute meiner Erfahrung und Überzeugung.
Der Ausbildungsalltag zeigte mir jedoch, dass angehende Berater/innen im psychosozialen Bereich und Coaches vor allem nach Techniken und Methoden suchen. Warum?
Sie bieten Sicherheit. Je strukturierter und detaillierter eine Vorgehensweise beschrieben ist, umso sicherer fühlten sich angehende Beratungspersonen. In Wahrheit handelt es sich dabei um eine Scheinsicherheit. Menschen verhalten sich nicht Konzept-konform, dafür sind sie zu individuell.
Methoden oder Grundhaltung – was führt zu einem guten Beratungsgespräch?
Menschen suchen immer einen klaren Fahrplan: Abfahrt in Zürich 10.02 Uhr auf Gleis 2, Ankunft in Bern um 11.05 Uhr auf Gleis 3. Zur Weiterfahrt nach Biel um 10.08 Uhr gehen Sie bitte zum Gleis Visasvis. Der Speisewagen befindet sich im vorderen Zugteil.
Angehende Berater und Beraterinnen im psychosozialen Bereich möchten am liebsten auch noch vor der Abfahrt sicherstellen, dass der Zug keinerlei Verspätungen hat, genügend Sitzplätze frei sind und vor allem auch im Speisewagen während der Fahrt ausreichend Platz zur Verfügung steht. Und Ruhe soll herrschen, sodass während der Fahrt ungestört am PC gearbeitet werden kann. In anderen Worten ausgedrückt: Sie wünschen sich eine ideale Zugfahrt ohne Störungen und Unterbrechungen.
Eine perfekte Beratung mit idealen Klient/innen könnte so aussehen: Die Person bringt eine hohe Selbstreflexion und Disziplin mit. Die Erkenntnisschritte eines jeden Beratungsgespräches werden in Eigeninitiative umgesetzt. Die Ratsuchenden fragen nach Literaturtipps, lesen mehrere Bücher. Sie schreiben ein Lerntagebuch und berichten in jeder Beratungssitzung von neuen Erfolgen.
Die vereinbarten Ziele aus dem Erstgespräch sind nach wenigen Terminen erreicht. Freudestrahlend empfehlen die Ratsuchenden die Beratungsperson im persönlichen Umfeld weiter. Kaum zu glauben, dass sich drei ihrer Freunde melden.
Doch wie bei einer Zugfahrt, ist eine solch exakte Planung und perfekter Ablauf mit einer Beratungsperson äusserst schwierig, wenn nicht gar unmöglich. Menschen sind nicht planbar.
Die Haltung – das stabilste Fundament in Beratung und Coaching
Ich, Urs R. Bärtschi, sehe mein Fundament als psychosozialer Berater HFP und Supervisor-Coach HFP im humanistischen Menschenbild. Ich gehe davon aus, dass sich Menschen konstruktiv weiterentwickeln wollen und die Voraussetzungen dafür in sich tragen. Durch meine individualpsychologischen Ausbildungen weiss ich, dass Wissen alleine nicht genügt. Es ist die Haltung des Beraters SGfB / einer Beraterin SGfB oder eines Coachs, was den wichtigsten Erfolgsfaktor ausmacht. Denn eine professionelle Haltung soll nicht gedacht, sondern vor allem gelebt werden.
In einem Beratungsgespräch arbeiten Klient/innen meist konstruktiv mit. Doch kann es dabei durchaus passieren, dass «Nebelbomben» entstehen. Das geschieht zum Beispiel, wenn Ratsuchende nicht wahrhaben wollen, was ihr Anteil am gerade Besprochenen war oder welche privatlogischen Schlüsse sie aus einer Kindheitserfahrung gezogen haben. Dann ist auf einmal gar nichts mehr klar oder verstanden. Es kommt zu Widerstand – das kann nicht sein!
Blockaden und Widersprüche erkennen und überwinden: mit der richtigen Haltung
Anhand meiner eigenen Lern- und Entwicklungsgeschichte möchte ich Ihnen diesen Prozess näherbringen. Denn sehr oft haben wir es in der psychosozialen Beratung mit Widersprüchen oder Widerständen zu tun.
Aus diesem Grund trainierte ich mein Bauchgefühl und reflektierte diesen Prozess kontinuierlich. Darüber hinaus lernte ich, auf sprachliche Formulierungen zu achten.
In einer Haltung von Wertschätzung für die bisherigen Wege eines Klienten, selbst wenn sie ihn nicht an das gewünschte Ziel brachten, sowie des Verständnisses für die Ängste, welche in einer neuen Sichtweise entstehen können, zeige ich dem Klienten seine «irrigen Ziele» (Adler) und Meinungen vorsichtig auf. So dass der Klient vertrauensvoll mitgehen kann und Widerstände ablegt.
Übrigens: Selbstverständlich verfügen individualpsychologische Berater/innen auch über unterschiedlichste Methoden. Ein Beispiel dafür finden Sie hier. Die Methoden entfalten ihre Wirkung am besten in Kombination mit der in diesem Beitrag beschriebenen Haltung.
Nebst dem habe ich mir kontinuierlich ein vertieftes Wissen durch Literatur und Weiterbildungen angeeignet. Wesentlich war für mich, dass ich durch die gewählte individualpsychologische Beratungsausbildung für mich selbst lernte.
Im letzten Ausbildungsgang von Theo Schoenaker in Züntersbach (D) konnte ich meine Persönlichkeit nachhaltig weiterentwickeln, denn meine Reflexionsfähigkeit wurde geschult. Durch die Lebensstilarbeit lernte ich meine Muster und Verhaltensweisen genauer kennen. Mehr und mehr verstand ich, wo mich meine Kindheit positiv und wo negativ geprägt hat. Ich lernte zu verstehen, wer ich wirklich bin, was ich kann und wo meine Grenzen liegen. Darüber hinaus lernte ich viel über meine Konfliktmuster und welche Problemlösungsstrategien ich stattdessen anwenden kann.
Durch die Selbstaufgaben habe ich einen kooperativen Umgang mit anderen Menschen geübt – ein Training, das mir später in meinem Beratungsalltag zu Hilfe kam, auf dem ich aufbauen konnte.
Individualpsychologie: Konzept und Haltung
Die Individualpsychologie ist eine psychologische Theorie und Therapieform, die vom österreichischen Arzt und Psychoanalytiker Alfred Adler entwickelt wurde. Adlers Beratungswissen war für mich nie nur Wissen. Es hatte immer einen Bezug zu meinem Leben und Alltag. Seine Ideen haben meine Haltung den Menschen gegenüber geprägt.
Theorien der Individualpsychologie
Lassen Sie mich diesen konkreten Alltagsbezug der Individualpsychologie anhand einiger grundlegender Konzepte genauer erklären.
• Teleologie: Adler betonte die teleologische Natur des menschlichen Verhaltens. Das bedeutet: Menschen handeln, um bestimmte Ziele zu erreichen. Theo Schoenaker prägte den markanten Satz: «Wenn du wissen willst, was du willst, musst du schauen, was du tust und was das Resultat deiner Handlung ist.» Menschen versuchen im Gespräch oft zu erklären, dass sie das offensichtliche Resultat ihres Verhaltens oder Handelns gar nicht wollen. Was der Mensch immer wieder erreicht, ist aber das, was er (un-) bewusst anstreb
• Ganzheitlichkeit: Die Individualpsychologie betrachtet den Menschen als ganzheitliches Wesen, bei dem Körper, Geist und soziales Umfeld miteinander verbunden sind. Jeder Mensch ist ein ganzheitliches, unteilbares Wesen. Das drückt bereits der Begriff «Individualpsychologie» aus. Das Wort Individuum stammt vom Lateinischen «individere» ab und bedeutet unteilbar.
• Im Persönlichkeitsmodell Alfred Adlers spielt die «tendenziöse Apperzeption» eine wichtige Rolle. Der Ausdruck «selektive Wahrnehmung» beschreibt diesen Umstand: Menschen erfassen nur die Aspekte der Realität, die für sie relevant sind und zu ihrem inneren Bewertungsschema passen.
• Minderwertigkeitsgefühl: Adler wusste, dass Minderwertigkeitsgefühle in der Kindheit entstehen, wenn Kinder sehen, was Grössere schon alles können und sich unzureichend fühlen. Daraus folgte das Konzept der Kompensation: Individuen entwickeln unterschiedliche Strategien, um mit Minderwertigkeitsgefühlen umzugehen, einschliesslich Überkompensation durch Leistung oder Macht. Das Minderwertigkeitsgefühl ist nicht aussergewöhnlich, sondern normal. Es ist die Antriebsfeder von Entwicklung (Adler). Durch dieses Wissen entspannte sich mein Leben. Ich konnte ausgeglichener die weiteren Lebensjahrzehnte verbringen und anderen auf Augenhöhe begegnen.
• Alfred Adler hat drei Lebensaufgaben erkannt, von deren Bewältigung abhängt, ob ein Mensch ein erfülltes und glückliches Leben führt: Arbeit, Liebe und Gemeinschaft. Der Mensch braucht einen Platz in einer menschlichen Gemeinschaft, in der er sich aufgehoben und zugehörig fühlt. Er strebt danach, sich in die Gemeinschaft aktiv einzubringen, einen wertvollen Beitrag zu leisten. Und er sucht nach einer gelungenen Verbindung zu seiner Herkunftsfamilie und einer guten Partnerschaft, sowie eine vertrauensvolle Bindung zu seinen Kindern.
• Lebensstil: Jeder Mensch entwickelt einen individuellen Lebensstil, der eine Art organisiertes Muster von Denken, Fühlen und Handeln darstellt. Das Lebensstilkonzept nach Alfred Adler gab mir den grössten Aufschluss. Ich erkannte innere Antreiber und Blockaden, lernte mehr und mehr, was mich antrieb. Ich verstand meinen inneren Kompass immer besser und konnte diesen weiterentwickeln. Der Lebensstil eines Menschen basiert vor allem auf den Erfahrungen der frühen Kindheit. Das Kind ist mit familiären Einstellungen, Regeln und Verhaltensweisen konfrontiert, aus denen sich seine Sicht auf sich selbst, die Welt und das Leben formt. Wichtig dabei ist zu betonen, dass es weniger die Erfahrungen sind, die den Lebensstil prägen, sondern die Schlussfolgerungen, die das Kind daraus zieht. Es entwickelt eine «private Logik», die teilweise verzerrt und fehlerbehaftet ist und deshalb zu destruktiven Verhaltensweisen führen kann, die oft selbst nicht erkannt werden. Womit wir wieder bei den Nebelbomben im Beratungsgespräch im oberen Textteil angekommen sind.
• Gemeinschaftsgefühl: Adler betonte die Bedeutung von Sozialinteresse oder Gemeinschaftsgefühl. Individuen sollten sich nicht nur um ihre eigenen Interessen kümmern, sondern auch um das Wohl der Gemeinschaft. Ein zentrales Konzept ist die Idee, dass Menschen in der Lage sind, soziale Verantwortung zu übernehmen und sich für das Gemeinwohl einzusetzen.
• Ermutigung: Positive Ermutigung und Bestärkung werden als wichtige Elemente in der Erziehung angesehen. Um über sich selbst hinauszuwachsen und Minderwertigkeitsgefühle zu überwinden, braucht der Mensch Mut. Ermutigung spielt daher in der Beratung eine ganz zentrale Rolle.
• Fragen und Dialog als Intervention: Individualpsychologisch ausgebildete Beratungspersonen setzen auf Fragen und einen dialogischen Prozess, um die Lebensgeschichte ihrer Klient/innen zu verstehen und deren Lebensziele aufzudecken.
Sie sehen: Die Individualpsychologie ist ein umfassendes und komplexes Konzept. Kein Wunder, dass Alfred Adlers Ansatz verschiedene Bereiche der Psychologie, vor allem Therapie und Erziehung, beeinflusst hat.
Wie kann ich eine professionelle beratende Haltung einnehmen?
Die folgenden Zeilen möchten Ihnen am Beispiel konkreter Reaktionen von Ratsuchenden und Kursteilnehmer/innen den Weg zu einer professionellen Haltung zeigen.
Wie wurde ich zu der Person, die ich bin? Diese Frage stellt sich dem Menschen wiederholt in seinem Leben. Als Beratungsperson muss ich diese Frage nicht nur «hören», sondern auch beantworten.
Durch meine Ausbildungstätigkeit weiss ich, dass an dieser Stelle viele Menschen ausweichen und kneifen. Sie entgegnen mit Sätzen wie «ich habe keine Kindheitserinnerungen» oder ganz salopp «mir geht’s doch gut, ich habe keine Probleme», von sich abzulenken. Manche Personen erkennen ihre Sätze, etwa «bei Schwierigkeiten renne ich davon» und vergessen diese schnell wieder, sodass alles beim Alten bleibt.
Für psychosoziale Berater und psychosoziale Beraterinnen ist es unverzichtbar, die eigene Biografie in den Blick zu nehmen. Unsere eigenen Erfahrungen mit Erziehungs- oder Autoritätspersonen prägen unsere Wahrnehmung, genauso wie unser Verhalten. Ganz nach dem Motto: «Nur wer sich selbst führen kann, kann andere führen.»
Wenn wir beratend arbeiten, sollten wir uns selbst gut kennen und eine Ahnung davon haben, wie es dazu kam, dass wir so sind, wie wir sind und denken. Die Auseinandersetzung mit Vergangenem kann unbequem und schmerzhaft sein, denn keine Kindheit verläuft ohne Verletzungen. Wir brauchen eine hinreichende emotionale Stabilität und ein sicheres Umfeld, damit wir uns unserer persönlichen Vergangenheit überhaupt öffnen und stellen können.
Selbsterfahrung als Weg zur therapeutischen Haltung
Die 3-jährige, adlerianische Beratungsausbildung in Glattbrugg schafft genau diesen Rahmen, um sich selbst zu begegnen. Durch einen bewusst gewählten Aufbau der einzelnen Semester begegnen die Studierenden diesen Fragen in angemessenem Tempo, jedoch auch bewusst. Treffend sagte der kleine Prinz bei Antoine de Saint-Exupery: «Man sieht nur mit dem Herzen gut.»
Der eigenen Biografie können wir uns von verschiedenen Seiten nähern. Ich möchte Sie nun dazu anregen, einen Blick «hinter die Kulissen» zu werfen. Selbstreflexion bedeutet, sich selbst zum Gegenstand des Nachdenkens zu machen – das eigene Denken, Fühlen und Handeln zu reflektieren. Eigene Gedanken werden bei der Reflexion in den Mittelpunkt gestellt. Das Ziel ist Selbsterkenntnis und das Erkunden der eigenen Möglichkeiten. Erst dadurch entsteht die Möglichkeit, Verhaltensgewohnheiten, Automatismen und Unbewusstes zu erkennen und zu verändern.
Selbstreflexion konsequent angewendet, führt «vom Passagier zum Piloten» seiner eigenen Gedanken und ermöglicht eine optimale Selbststeuerung. Erkennbar wird die gelungene Selbstreflexion dadurch, wenn gezielte eigene und erwünschte Verhaltensänderungen bemerkt, erklärt und beschrieben werden können. Dazu gehört das Bewusstsein, wie das eigene Konzept oder Weltbild umgestaltet wurde.
Selbstreflexion ist mit den vielen kleinen Teilen eines Puzzles zu vergleichen. Anfangs liegen die Einzelteile durcheinandergewürfelt vor einem. Was hier noch nicht ersichtlich wird: ist das «fertige Puzzle», also das Gesamtbild meiner Persönlichkeit und meiner Handlungsmuster. Womit wir wieder beim Ziel der Selbstreflexion ankommen.
Durch eigenes (Nach-)denken werden die in der Ausbildung durchlebten Lernprozesse über die eigene Person schriftlich von den Teilnehmenden festgehalten.
Reflexion: Wie entsteht die persönliche Haltung?
Unsere Zeit ist geprägt von einem massiven Wertewandel. Lange gültige Werte verlieren ihre Gültigkeit. Die Menschen müssen gemeinsame neue und verbindliche Werte finden und festlegen. Als individualpsychologische Beratungsperson steht das Wertethema regelmässig im Mittelpunkt. Der Grund: Werte sind tiefe persönliche Überzeugungen. Sie prägen die Vorstellung darüber, was richtig und was falsch ist. Werte sind persönliche Leitbilder und beeinflussen in hohem Masse unser Leben. Dabei beinhaltet die Kernideologie die grundlegenden Werte eines Menschen. Sie ist die Konstante, das Überdauernde in einem Wertgefüge.
Selbstreflexion in der Beratungsausbildung: die Basis für die Entwicklung einer neuen Haltung
Peter Meier (Name geändert), ein Polizist im Kader der Kantonspolizei St. Gallen will sich persönlich und beruflich weiterentwickeln und machte bei mir seine Ausbildung. Herr Meier hatte wiederholt Selbsterkenntnisse, die ihn und andere zum Staunen brauchten. «Als Polizist musste ich Gefühle von anderen Menschen ausblenden, autoritär und selbstbewusst auftreten. Auch persönliche Schicksale oder Nöte durfte ich nicht an mich heranlassen.» In der Polizeiausbildung trainierte er Abgrenzungsfähigkeit, welche er im Polizeiberuf gut einsetzen konnte. Nach einer Scheidung, einer neuen Partnerschaft und dem Spiegeln seiner Kinder wurde ihm bewusst, dass er nicht weiterhin so «konsequent» durch das Leben gehen kann. Herr Meier las das Sachbuch «Ich bin mein eigener Coach» und erhielt dadurch erste Ideen, wie er mit seinen konsequenten Persönlichkeitsanteilen auch noch umgehen könnte. Er lernte, dass das Leben unvollkommen und keinesfalls perfekt ist.
In seinem Beruf hatte sich der konsequente Peter Meier gut entwickelt und etabliert. Das Empathische und Feinfühlige blieb dabei auf der Strecke. Der Polizist entdeckte erstaunt, dass er auch gemütliche Anteile in sich trägt. Diese hat er über Jahre verdrängt, wollte sie nicht wahrhaben.
«Nichts zu tun oder einfach Geniessen» erschien ihm als faul, er empfand es als verlorene Zeit. Nicht einmal in den Ferien gestand er sich dies zu (auch anderen nicht).
Vielmehr war der Tag durchgetaktet und verplant. Das Peter Meier immer wieder an seine Grenzen stösst und mehrmals haarscharf an einem Burn-Out vorbei schrammte, erscheint nun in einem neuen Licht.
Pausen müssen sein, ist das Eingeständnis. Oder Empathie und Einfühlung sind Beziehungsgaranten. Durch die gewählte Ausbildung im psychosozialen Bereich ist Peter Meier nun gefordert, seine menschliche Seite zu entwickeln und somit eine neue Haltung einzunehmen.
Haltung erzeugt Wirkung: Jeder Mensch hat eine Wirkung
Manche Menschen sind sehr wirkungsstark, andere wiederum fallen kaum auf. Beratungspersonen werden von ihren Klient/innen wahrgenommen. Die Persönlichkeit von psychosozialen Berater/innen hat eine Wirkung. Ihre Anwesenheit wirkt sich auf die die Atmosphäre im Raum, den Aktivitätsgrad der Klient/innen und die Bereitschaft sich zu öffnen und Neues zu wagen aus.
Als Ausbildner und Beratungsperson gestalte ich bewusst den Rahmen, sodass die Klient/innen sich wohlfühlen – sie selbst sein können. Ich schaffe eine heimatliche Welt in der sie sich selbst begegnen können.
Um unserer Aufgabe als gute Beratungsperson gerecht zu werden und Wirkung entfalten zu können, brauchen wir eine von den Klient/innen wahrnehmbare Präsenz. Diese drückt sich zum Beispiel auf folgende Weise aus:
• Ich bin mit meiner ganzen Aufmerksamkeit hier.
• Ich beobachte, was passiert, habe Kenntnis über die Situation und kann gegebenenfalls regulierend eingreifen.
• Ich bin emotional anwesend, ich spüre, wie meinem Gegenüber zumute ist und kann bei Bedarf beruhigen, ermutigen oder trösten.
• Ich bin stabil und verlässlich – wie ein Fels in der Brandung. Ich biete einen tragfähigen Rahmen für ihre Situation.
Aufmerksame Präsenz kann eine starke Wirkung entfalten. Der Psychotherapeut Irvin Yalom antwortet auf die Frage nach seinen therapeutischen Wirkprinzipien: «Das Wertvollste, das ich zu bieten habe, ist meine schiere Präsenz» (Yalom, 2016, S. 176).
Eine empathische, ressourcenorientierte Haltung
Ich bin mir meiner eigenen Haltung bewusst und bereit, über mein Denken, Fühlen und Handeln selbstkritisch nachzudenken, mich weiterzuentwickeln. Meine Haltung ist darauf ausgerichtet, tragfähige Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen, um sie in ihrer Entwicklung zu unterstützen und ihnen zu ermöglichen, förderliche Haltungen zu sich selbst und anderen einzunehmen.
Wir alle führen täglich rund 4000 (!) Selbstgespräche, die wir oft gar nicht wahrnehmen. Siebzig Prozent davon haben einen negativen Inhalt.
Diese negativen Selbstgespräche rauben Energie und Lebensfreude. Sie führen direkt in die gedankliche und gefühlsmässige Abwärtsspirale. Menschen kennen das Gefühl der Unzulänglichkeit und verstärken es durch entsprechende Gedankengänge. Gedanken sind wie körperliche Arbeit und verbrauchen jede andere Tätigkeit Energie. Die (unbewussten) Selbstgespräche haben Auswirkungen auf das gesamte Erleben.
Im Alltag wird unser Handeln fast unaufhörlich von Selbstgesprächen begleitet. «Wird der Klient pünktlich kommen? Hat er oder sie die Trainingsaufgaben gemacht? Wird es wiederum ein schwieriges Gespräch?» «Was kaufe ich nachher zum Mittagessen ein?» Derartige Gedanken blitzen auf oder durchströmen unseren Kopf. Manche sind flüchtig und verschwinden so schnell, wie sie gekommen sind. Andere begleiten uns im Hintergrund durch den ganzen Tag.
Vor und in einem Beratungsgespräch gibt es bei mir keine Nebengeräusche. Ich bin voll und ganz auf mein Gegenüber ausgerichtet und eingestellt. Nichts anders hat Platz. Ich nehme meine Klient/innen als Menschen mit Stärken, Fähigkeiten und Ressourcen wahr.
Es ist nicht nur professionell wichtig, sondern tut auch gut und macht Mut, die Stärken zu (er)kennen. Welche Kompetenzen geben dieser Person in ihrem Beruf Halt? Worauf kann sich diese Person verlassen? Worauf ist sie stolz? Wo ist sie in ihrem Element? Welche Menschen geben ihr Kraft und Halt? Wo erhält sie bei Bedarf Trost, Ermutigung oder Geborgenheit? Was verschafft ihr Energie oder Ausgleich?
Welche Art von Beratungsperson möchten Sie sein?
Eine Haltung wird nicht nur im Kopf gedacht, sondern mit «Leib und Seele» gelebt. Sie kommt von Herzen.
Wir Berater/innen entwickeln unsere Haltung besonders nachhaltig weiter, wenn wir unsere gelebte Praxis regelmässig unter die Lupe nehmen, sie nachdenklich betrachten und versuchen, sie zu verstehen. Reflexion ist insbesondere in Situationen sinnvoll, die in uns ungute Gefühle hinterlassen, immer wieder ins Gedächtnis zurückkehren oder unbefriedigend verlaufen. Auch Momente, die wir gerne verstehen wollen oder für die wir in Zukunft gerne andere Handlungsoptionen parat hätten, sind es wert, reflektiert zu werden.
Berufskompetenz entwickelt sich und ist immer gepaart mit Sozialkompetenz
Die therapeutische Haltung ist ein komplexes Konzept. Sie ist Ergebnis von theoretischen Annahmen, Einflüssen aus der Praxis sowie der Persönlichkeit der Beratungsperson. Die innere Haltung hat eine ansteckende Wirkung: Grosse Empathie (Einfühlungsvermögen) und ein hohes Ausmass an sozialer Kompetenz und Wertschätzung sind Grundlagen für die Arbeitsbeziehung zwischen Berater und Klient. Präzises Verstehen gehört zu den wichtigsten Erfolgsfaktoren.
Eine Beobachtung, die bereits Sigmund Freud formulierte, ist die Übertragung. Sie meint, dass keine Interaktion auf neutralem Boden geschieht. Jedes Handeln ruft Resonanz hervor. Inzwischen konnte die Hirnforschung mit der Entdeckung der Spiegelneuronen die Annahmen untermauern.
Dieses Wissen setzt eine hohe Beratungs- und Sozialkompetenz voraus.
Es ist Aufgabe der Berater/innen, die Beratungsbeziehung professionell zu gestalten und das Mitschwingen von Gedanken und Gefühlen wahrzunehmen.
Lassen Sie diese Zeilen gerne etwas auf sich wirken. Weitere Inspiration finden Sie in unserem Beitrag zur Selbsterfahrung. Sie möchten uns näher kennenlernen? Termine zu Informationsveranstaltungen finden Sie auf unserer Website. Bei anderen Fragen nutzen Sie einfach unser Kontaktformular.
Autor: Urs R. Bärtschi
Lesen Sie hier den ersten Teil und zweiten Teil dieser Beratungs-Trilogie.
INFOVERANSTALTUNG BESUCHEN
BROSCHÜRE HERUNTERLADEN
EINBLICK INS STUDIUM – STUDIERENDE BERICHTEN