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Das Gemeinschaftsgefühl: Die Basis einer funktionierenden, wertschätzenden Gesellschaft

Beschworen wird es regelmässig, meist mit blumigen oder auch pathetischen Worten und Gesten: das Gemeinschaftsgefühl. Doch gerade in Krisen zeigt sich, wie weit her es damit wirklich ist. Corona ist eine solche Krise, und das Gemeinschaftsgefühl wird auch in dieser Episode als oberste Priorität dargestellt. In psychosozialen Beratungen zeigt sich immer wieder, welch eine wichtige Rolle das Gefühl, einer Gemeinschaft anzugehören, spielt.

Doch schon vor dieser Krise war es nicht weit her mit der Gemeinschaft und deren Gefühl füreinander.

Theo Schoenaker hat in seinem Buch „Das Leben selbst gestalten. Mut zur Unvollkommenheit“ eine Aufzählung gemacht, aus der hervorgeht, wie es um unser Gemeinschaftsgefühl bestellt ist. Er beschrieb die Situation, die wir vorfinden würden, wenn wir das Gemeinschaftsgefühl wirklich miteinander leben würden:

  • Wir hätten weniger Angst
  • Wir wären nicht allein oder einsam
  • Wir würden keine gedankenlos weggeworfenen Lebensmittel oder Kaugummis herumliegen lassen
  • Wir wären höflicher, rücksichtsvoller
  • Wir wären toleranter, geduldiger und einfühlsamer
  • Wir hätten mehr Wissen und Verständnis für die sozialen Zusammenhänge, die über unsere eingeschränkte Sicht unseres persönlichen Lebens hinausgehen würden
  • Wir wären mit mehr Liebe, Hoffnung, Gerechtigkeit und Glauben ausgestattet
  • Unsere Kommunikation miteinander wäre verständnisvoller
  • Die Kluft zwischen oben und unten wäre geringer, die extremen Unterschiede zwischen arm und reich wären es ebenfalls
  • Es gäbe mehr Gleichwertigkeit
  • Es gäbe mehr Zusammenarbeit
  • Die Würde des Menschen wäre keine Plattitüde, sondern gelebte Realität

Diese kleine Aufzählung macht bereits deutlich, dass das Gemeinschaftsgefühl unendlich wirkmächtig sein kann. Es kann zu sauberen Strassen und dem Weltfrieden gleichermassen führen, wenn wir es innerlich überzeugt und miteinander leben.

Der Kern besteht im Denken über sich selbst hinaus, über die Einbeziehung der anderen Menschen, die uns umgeben. Wer gedankenlos mit 60 km/h durch ein Wohngebiet fährt, gefährdet andere Menschen, etwa Kinder, die spielend auf die Strasse laufen. Wer langsamer fährt, hat bessere Chancen, rechtzeitig zu bremsen und so einen – womöglich tödlichen – Unfall zu vermeiden. Doch dafür muss die Fixierung auf das frühzeitige Ankommen am Ziel oder die pure Lust am Tempo nach hinten verschoben werden. Ist das nicht der Fall, haben wir lediglich ein „Ich-Gefühl“, das Lichtjahre vom gemeinschaftlichen Denken entfernt ist.

Gemeinschaftsgefühl: Die Basis einer funktionierenden, wertschätzenden Gesellschaft

Das Gemeinschaftsgefühl und die Individualpsychologie nach Alfred Adler

Nicht jeder weiss, dass der Begriff des Gemeinschaftsgefühls während des Ersten Weltkrieges – was eine gewisse Ironie beinhaltet – von Alfred Adler und seiner Schule der Individualpsychologie geprägt wurde. Adler formulierte es so: „Das Einzige, was die Welt heute braucht, ist Gemeinschaftsgefühl.“

Auch heutige psychosoziale Beraterinnen und Berater können dieser Aussage nur nickend zustimmen.

Während das Wort heute in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen ist – allzu oft jedoch, ohne die Überzeugung für seine Bedeutung in sich zu tragen -, gab es zu Adlers Zeiten auch zahlreiche Kritiker des Begriffes. Er erinnere, so die Kritiker, zu sehr an eine Religion, an Aussagen wie „Liebe deinen Nächsten“ und ähnlich religiöses Denken. Andere warfen Adler vor, dass der Begriff Gemeinschaftsgefühl in der Philosophie gar nicht vorhanden wäre. Sie wendeten sich teilweise von ihm ab.

Zwar liess Adler sich von seinen Grundgedanken nicht abbringen, er selbst war aber auch unschlüssig, wie er das Gemeinschaftsgefühl genauer definieren könnte. Und so half es ihm, als er auf einen englischen Autor stiess, der ihn folgende Worte formulieren liess: „Mit den Augen eines anderen zu sehen, mit den Ohren eines anderen zu hören, mit dem Herzen eines anderen zu fühlen.“

Dahinter steckt der Gedanke, dass ein Mensch sich zugehörig fühlen und Teil eines grösseren Ganzen sein möchte. Wenn er sich also in einer grösseren Gemeinschaft zugehörig fühlt, sich nützlich fühlt und seinen Beitrag leisten kann, entsteht das Gemeinschaftsgefühl. Und die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen.

Das Gemeinschaftsgefühl im Kleinen und im Grossen

Der damalige Vorwurf gegenüber Adler, der Begriff Gemeinschaftsgefühl wirke zu religiös, erscheint bei genauerer Betrachtung nicht haltbar, zumindest aber ist er als Begründung der Kritik nicht schlüssig. Man kann den Kritikern entgegnen: Was kann so schlimm an der religiösen Äusserung sein, dass man selbst anderen nicht zufüge, was man selbst nicht zugefügt haben möchte?

Nichts anderes meint das Gemeinschaftsgefühl, wenn es postuliert, dass alles richtig ist, was der Gemeinschaft dient und nichts richtig sein kann, was ihr schadet. Und das beginnt im Kleinen, also im persönlichen Umgang miteinander, es endet bei Staaten und Nationen in ihrem Verhalten gegenüber anderen Staaten. Gemeinschaftsgefühl beinhaltet Aspekte wie Empathie, Optimismus, Beratung und gegenseitige Hilfe und Zusammenarbeit. Hinzu kommen ein Wir-Gefühl, Gleichwertigkeit und Gerechtigkeit. Heute würde Alfred Adler den Kritikern womöglich sagen: „Wenn diese Attribute religiös sind, dann kann ich damit leben.“

Gelebtes Gemeinschaftsgefühl bedeutet also, auch an andere zu denken und in deren Sinne zu handeln. Wer aus Gewinn- oder Profilierungssucht ohne Rücksicht auf andere agiert und Nachteile und womöglich internationale Verwerfungen in Kauf nimmt, kann nicht im Sinne der Gemeinschaft handeln. Das beginnt bei liegengelassenem Müll auf der Strasse und endet bei Provokationen, die zu kriegerischen Auseinandersetzungen führen können. Beides – also im Grossen wie im Kleinen – hat mit dem Gemeinschaftsgefühl nichts zu tun.

Gemeinschaftsgefühl: Die Basis einer funktionierenden, wertschätzenden Gesellschaft

Jubel, Trubel, Heiterkeit?

Gemeinschaftsgefühl bedeutet nicht, dass sich alle lieb haben und im Kreis tanzen müssen. Natürlich ist eine gewisse Höflichkeit bedeutsam und auch wichtig, doch niemand kann erwarten, dass jeder jeden auf Anhieb sympathisch findet.

Wie in der Ausbildung zur psychosozialen Beraterin / zum Psychosozialen Berater an der Akademie für Individualpsychologie immer wieder betont wird, geht es darum, die Haltung des gegenseitigen Zugeständnisses des „Ich bin ok, Du bist ok“ unabhängig der Herkunft, Bildung und Lebensgestaltung zu leben. Diese Einstellung gepaart mit der vereinenden Kraft des Gemeinschaftsgefühls führt zu

Das Bild einer Eimerkette, die helfen soll, ein Feuer zu löschen, verdeutlicht das sehr schön. Wenn Menschen eine solche Kette bilden, reicht jeder seinem nächsten den Eimer mit Wasser, dieser gibt ihn weiter und so fort. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Menschen sich kennen oder auch mögen, wichtig ist einzig die gemeinsame Tat, den vollen Eimer weiterzureichen, um ihn zu seinem Ziel zu bringen. Das ist ein Gemeinschaftsgefühl, das durch Zusammenarbeit, Verantwortungsgefühl, Hilfsbereitschaft, Mitgefühl und das gemeinsame Ziel zum Ausdruck gebracht wird.

Wie weit sind wir mit unserem Gemeinschaftsgefühl?

In Anbetracht zahlreicher weltweiter Kriege und anderer aggressiver Auseinandersetzungen scheinen wir weit entfernt von einem übergreifenden Gemeinschaftsgefühl zu sein. Und auch der zwischenmenschliche Umgang innerhalb von Gesellschaften lässt die Befürchtung zu, dass wir als Menschen nicht in der Lage sind, ein breitgefächertes Gefühl von Gemeinschaft zu entwickeln.

Dennoch kann jeder bei sich anfangen und so einen wichtigen Schritt hin zu mehr Gemeinschaftsgefühl machen. Alfred Adler formulierte es in den 1930er Jahren folgendermassen:

„Sind aber diese drei Fragen (die Lebensaufgaben) mit ihrer gemeinschaftlichen Basis des sozialen Interesses (= Gemeinschaftsgefühl) unausweichlich, dann ist es klar, dass sie nur von Menschen gelöst werden können, die ein zulängliches Mass von Gemeinschaftsgefühl ihr eigen nennen. Es ist leicht zu sagen, dass bis auf den heutigen Tag wohl die Eignung jedes Einzelnen zur Erlangung dieses Masses vorhanden ist, aber die Evolution der Menschheit noch nicht genug fortgeschritten ist, um Gemeinschaftsgefühl dem Menschen so weit einzuverleiben, dass es sich automatisch auswirkt, gleich atmen oder gleich dem aufrechten Gang. Es ist für mich keine Frage, dass in einer vielleicht sehr späten Zeit diese Stufe erreicht sein wird, falls die Menschheit nicht an dieser Entwicklung scheitert, wofür heute ein leichter Verdacht vorhanden ist.“

Heute, fast 100 Jahre später, muss man realistisch resümieren, dass der „leichte Verdacht“ des Scheiterns nicht wegzudiskutieren ist. Doch in der individualpsychologischen Beratung treffen wir immer wieder auf Lebensentwürfe gelebter Gemeinschaft. Wie heisst es doch so schön: „Deine Welt beginnt bei dir selbst“.

 

 

 

Quelle:

Fachartikel Nr. 15: Das Gemeinschaftsgefühl – Alles, was weniger ist als das Ganze, ist zu wenig!, von Theo Schoenaker

 

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