Zeit für Reflexion: ein Impuls für persönliches Wachstum und innere Stärke
Erinnern Sie sich?
Sie haben Sportunterricht. Der Lehrer gibt die Anweisung, dass sich die Klasse in zwei Gruppen teilen soll: “Reto und Carmen, wählt Eure Teams!“ Thomas und Sandra gehören wie immer zur Gruppe der Zuletzt-Gewählten. Eine gefühlte Ewigkeit stehen sie da und warten, bis sie in die eine oder andere Mannschaft gewählt werden. Für beide eine beschämende Situation.
Noch schlimmer und entmutigender empfinden sie, dass sich kein einziges Mitglied der Mannschaft über die erzwungene Wahl zu freuen scheint. Diese Wahrnehmung verstärkt ihre Überzeugung, Teil des Teams zu sein, aber nichts zum Sieg beizutragen. Statt Selbstvertrauen und Zugehörigkeit zu spüren, sehen sich Thomas und Sandra in der Rolle der “nicht Gewollten”. Die meisten von Ihnen kennen ähnliche Situationen aus der Kindheit.
„Wir sind Kinder in einer alternden Haut“ Alfred Adler
So beschreibt Adler, der Begründer der Individualpsychologie, kurz und knapp die Abläufe im Menschen.
Kleine, oft unbedeutende Handlungen in der Gegenwart genügen, um eine Empfindsamkeit und damit das individuelle (Selbstsabotage-) Programm zu triggern. So kann es ausreichen, dass der Vorgesetzte kurz mit der Augenbraue zuckt – und der Gedanke „mein Team-Beitrag ist nicht gewollt“ setzt sich fest.
Glaubenssätze reflektieren und souverän im Jetzt leben
„Ich werde benachteiligt und ziehe (schon) wieder den Kürzeren“ ist ein anderer, weit verbreiteter Glaubenssatz. Der oder die Betroffene fühlt sich übervorteilt. Die (kindliche) Meinung über das Leben, den eigenen Platz im grossen Ganzen und die gemeinen Mitmenschen scheinen bestätigt.
Wir alle tragen Erinnerungen in uns, die unseren Aktionsrahmen heute einschränken. Genau genommen begrenzen uns nicht die Erfahrungen, sondern die Bewertungen, die wir aus der Erfahrung abgeleitet haben. Adler ist der Überzeugung, dass wir selbst durch unser Bewertungssystem Situationen erzeugen, die unsere inneren Überzeugungen bestätigen.
Die eigene Logik, die eigene Wahrheit
Der eigenen Logik zu folgen wird als normal und sinnvoll betrachtet. Die eigenen Überzeugungen und Annahmen dienen als Leitidee fürs Leben. Für viele Menschen liegt darin eine unverrückbare Wahrheit – die Realität. Ihre Mitmenschen können daran verzweifeln. Jedes Argument und jeder gut gemeinte Zuspruch verfehlen die Wirkung, solange die betreffende Person an ihrer Logik festhält.
Selbstreflexion konkret: Sprichwörtern auf der Spur
Sprichwörter funktionieren wie ein Miniaturmuster. Ob positiv oder negativ – gewinnbringend oder hindernd. Machen Sie sich innerlich auf die Suche. Überlegen Sie: Welche Sätze trage ich in mir, die ich in Selbstgesprächen nutze? In welchen Situationen zeigen sie sich und welche Folgen ergeben sich daraus? Hier finden Sie einige Beispiele:
– „Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen.“
– „Gut Ding will Weile haben.“
– „Ordnung ist das halbe Leben.“
– „Probieren geht über Studieren.“
– „Ohne Fleiss kein Preis“
– „Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen.“
– „Zuerst die Arbeit und dann das Vergnügen.“
– „Der frühe Vogel fängt den Wurm.“
– „Schuster bleib bei deinen Leisten“
– „Steter Tropfen höhlt den Stein.“
– „Wer A sagt, der muss auch B sagen.“
– „Mitgegangen – mitgehangen.“
– „Den Morgen nicht vor dem Abend loben.“
– „Wer keinen Kopf hat, hat Füsse.“
Erkennen Sie das Minimuster aus Überzeugungen, Handlungsabläufen, Erwartungen und Vorgaben, die sich daraus ableiten und im eigenen Leben beobachten lassen?
Nehmen wir das Beispiel „Wer keinen Kopf hat, hat Füsse.“ Was genau beinhaltet diese Überzeugung? Antwort: Hohe Eigenverantwortung und Selbstmotivation! Es heisst nicht: „Wer keinen Kopf hat, findet jemanden, der für ihn denkt und handelt.” Hier zeigt sich die Idee: Wenn ich nicht vorausdenke, muss ich mein Ziel trotzdem erreichen und dazu gibt es Wege (Füsse).
Einerseits verweist dieser Satz auf das eigene Potenzial. Er kann zu wunderbaren, kreativen und individuellen Lösungsansätzen motivieren. Andererseits schliesst er aus, sich helfen oder unterstützen zu lassen. Nun stellt sich die Frage, in welchen Momenten diese Überzeugung ein Plus darstellt und wann sie sich als wenig hilfreich erweist. Spannend, nicht wahr?
Der Sinn der Reflexion: Nur was ich erkenne, kann ich verändern.
Das Erkennen der Ideen und Leitsätze im eigenen Leben ermöglicht es, sie aufzubrechen, zu verändern oder anzupassen. Ein Beispiel: „Wer A sagt, der muss auch B sagen.“ Bertolt Brecht hat für sich folgende Variante gefunden: „Wer A sagt, der muss nicht B sagen. “Er kann erkennen, dass A falsch war.”
Auch ein lockeres „der frühe Vogel kann mich mal!“ kann das Leben entspannen.
Die private Logik – oft ein innerer Entwerter
Betrachten wir einen weiteren wichtigen Punkt der Selbstreflexion. Es handelt sich um eine nonchalante innere Stimme. Sie geht hart mit uns ins Gericht – manchmal laut, manchmal leise, jedoch stets klar und abwertend. Dieser innere Entwerter stammt ebenfalls aus den frühen Lebensjahren. Er schiebt sich meistens in den Vordergrund, wenn wir schon nervös oder erschöpft sind oder von Zweifeln geplagt werden. Seine Worte sind eng mit der eigenen Biographie verwoben und deshalb leicht zu aktivieren. Hier einige Beispiele:
– “Das schaffe ich eh nie, muss es gar nicht erst angehen.”
– “Ich habe zwei linke Hände, das kann nicht gut werden.”
– “Ich kann nicht gut reden, ich sage lieber nichts.”
– “Andere sind viel beliebter als ich, die wollen mich eh nicht.”
– “Ich kann mir noch so viel Mühe geben, es reicht nie zu einem guten Resultat!”
– “Das kann ich nicht, ich mache mich bestimmt nicht lächerlich.”
Das Ergebnis ist klar: Wir fühlen uns schlecht, unfähig, ohnmächtig und minderwertig. Der folgende Satz von Viktor Frankl hilft, den Entwerter zu entmachten: “Man muss sich von sich selbst nicht alles gefallen lassen.“
All diese Erfahrungen sind absolut menschlich.
An dieser Stelle ein Hinweis: Natürlich stammen die meisten Prägungen aus der Kindheit und dem frühen Erwachsenenalter. Ein heranwachsender Mensch saugt Informationen und Eindrücke auf, verarbeitet sie und experimentiert. Es wäre ein Wunder, wenn dieser Prozess ohne Missverständnisse oder ungünstige Prägungen auskommen würde. Nach Schuldigen zu fahnden ergibt hier wenig Sinn. Im Gegenteil: Dieses Vorgehen bindet Betroffene noch enger an destruktive Muster, die Blockade wächst. Unser Anstoss zur Reflexion möchte ermutigen und inspirieren, hinderliche Muster aktiv zu verändern und in die Zukunft zu blicken.
Alfred Adler schreibt: „Nicht die Erlebnisse diktieren unsere Handlungsweisen, sondern die Schlussfolgerungen, die wir aus den Erlebnissen ziehen.“
Das eigene Bewertungssystem und die entsprechenden Schlussfolgerungen sind fest in uns verankert.
Nehmen wir das Eingangsbeispiel. Sie erinnern sich: Thomas und Sandra wurden regelmässig als Letzte in die Mannschaften gewählt. Die beiden entwickelten daraus eine Lebensidee. Diese ist eng mit dem Gedanken „mich will niemand“ und dem Gefühl von trauriger und schmerzhafter Unzulänglichkeit verflochten.
Stellen Sie sich nun Sandra in einer Geschäftssituation vor. Sie sitzt in einem Meeting. Der Teamleiter schlägt vor, die Teammitglieder für ein Projekt aufzuteilen. Sofort startet in Sandras Innerem das Muster aus der Turnstunde. Ohne dass es ihr bewusst wäre, verfällt die sonst selbstbewusste, proaktive Frau in eine passive Haltung. Sie landet tatsächlich in dem Team, in das sie weniger gut passt. Die Geschichte scheint sich zu wiederholen: Es werden Gruppen gebildet und Sandra landet dort, wo sie ihren Beitrag nicht leisten kann.
Sie war in dem Gefühl der Unzulänglichkeit und des Nicht-gewollt-seins so gefangen, dass sie nicht anders agieren konnte. Letztendlich ist sie tief enttäuscht und entmutigt. Die schmerzhaften Leitgedanken aus der eigenen Vergangenheit erscheinen blitzschnell – manchmal mit, manchmal ohne entsprechende Erinnerung.
Der situative Zielsatz
Die Segel anders setzen könnte für Sandra wie folgt aussehen. Sobald sie in eine Wahlsituation (Wind) kommt und die entsprechenden Gedanken bzw. Gefühle und deren Auswirkung entdeckt, stoppt sie sich mit dem inneren Ruf: Jetzt nicht! Die Betonung liegt auf dem „jetzt“. Jetzt in dieser Situation verhalte ich mich anders. Ich melde meine Bedürfnisse und Ansichten an (Segel anders setzen). Ich verhindere jetzt den normalen Ablauf meines Musters.
Es ist nun mal so…
Verzichten Sie auf solche Phrasen. Ändern Sie, was Ihnen möglich ist. Es gilt, sich eigene Muster bewusst zu machen und hindernde, selbstsabotierende Sätze zu entdecken, ihre Wirkung zu verstehen und diese Sätze aufzubrechen. Erschaffen Sie sich neuen Handlungsspielraum!
„Es gibt keine Lebensumstände, an die der Mensch sich nicht gewöhnen könnte, besonders, wenn er sieht, dass alle in seiner Umgebung genauso leben“, sagte Leo N. Tolstoi treffend.
Entdecken Sie, wie und wo das Kind in der alternden Haut sich selbst zum Straucheln bringt und helfen sie, dessen Ideen angemessen zu überdenken. Schimpfen Sie nicht mit sich selbst! Die Anpassungen wären schon längst von Ihnen gemacht, hätten Sie es bisher besser gewusst! Wer wagt, gewinnt!
Hat Sie dieser Fachartikel zum Nachdenken angeregt?
Dann hat er seinen Zweck erfüllt! Die Erfahrung zeigt, dass Nachdenken und Reflektieren das Wichtigste sind. Es geht darum, eigene Lebenserfahrung konstruktiv zu betrachten und sich damit auseinanderzusetzen. Auf dieser Basis können Sie
- Ihre Gefühle und Gedanken erkennen,
- lernen, lösungsorientiert zu denken und zu handeln,
- Ihre Fähigkeit zum Selbstmanagement verbessern und
- bessere Entscheidungen treffen.
Gleichzeitig steigern Sie Ihre soziale Kompetenz, denn bisher unbekannte Aspekte Ihrer Persönlichkeit werden offenbar. Erfolgreiche Menschen entwickeln ihre Persönlichkeit kontinuierlich weiter, denn Selbstreflexion fördert das persönliche Wachstum.
Nutzen Sie Ihr Talent!
Vielleicht führt Ihre Reflexion zu einer neuen Erkenntnis: Sie erkennen, dass Sie auf Ihrem inneren Weg bereits eine beachtliche Strecke zurückgelegt haben. Sie spüren den Wunsch, andere Menschen zu unterstützen. In diesem Fall lohnt es sich, einen Blick in unser Kursangebot zu werfen. Nutzen Sie Ihr Talent für die wertvolle Aufgabe einer individualpsychologischen Beraterin oder eines individualpsychologischen Beraters im psychosozialen Bereich.
Autorin: Ruth Bärtschi leitet die Akademie für Individualpsychologie. Sie ist Dipl. Individualpsychologische Beraterin RDI, Psychosoziale Beraterin mit eidgenössischem Diplom (HFP), Internationale Dozentin, Supervisorin.
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